Andreas Heineckes Idee ging von Hamburg aus in die Welt: Den „Dialog im Dunklen“ gibt es mittlerweile schon in 38 Ländern

Hamburg. Es ist eine merkwürdige Erfahrung, sich so hilflos zu fühlen. Ziemlich verunsichert tapsen die Besucher des „Dialog im Dunkeln“ mit dem Blindenstock durch die Finsternis der „Ausstellung“, durchqueren einen Wald, mit vorsichtigen Schritten laufen sie über eine schwankende Brücke, tasten sich an Hauseingängen entlang, überqueren mühsam eine Straße und starten schließlich auf schwankendem Boot zur Hafenrundfahrt. Zum Glück gibt es den Guide, der den Besuchern sagt, wo es langgeht. Der mit seiner Stimme Orientierung gibt und die nichts mehr Sehenden, wenn es denn nötig ist, auch mal an die Hand nimmt. Die Dunkelheit macht ihm nichts aus, denn er ist sie gewöhnt. Er ist blind, aber behindert sind hier die anderen. Weit mehr als eine Million Besucher haben in den vergangenen 14 Jahren im Hamburger „Dialog im Dunklen“ erlebt, wie es sich anfühlt, plötzlich nichts mehr zu sehen. Und das ist wörtlich zu nehmen, man sieht absolut nichts, nicht den schwächsten Schimmer.

Zwei Etagen über diesem Reich der Finsternis sitzt Andreas Heinecke in seinem Büro im Kontorhaus am Alten Wandrahm und erzählt, wie alles begann. Heinecke, Jahrgang 1955, ist promovierter Philosoph und Journalist, vor allem aber ein außergewöhnlicher Unternehmer. „Founder & CEO“ steht auf seiner Visitenkarte, die Firma heißt Dialogue Social Enterprise GmbH, und die raffinierte Hamburger Dunkelkammer ist nur ein Teil dieses sehr viel größeren, international bestens vernetzten Unternehmens, in dem zahlreiche blinde Menschen einen qualifizierten Arbeitsplatz gefunden haben.

Kann er sich an seine erste Begegnung mit einem Blinden erinnern? „Das war ein Kriegsveteran, der als Amateurfunker Kontakt zu meinem Vater hatte, der auch Hobby-Funker war, und uns deshalb zu Hause in Baden-Baden besuchte“, sagt Heinecke. Weit folgenreicher war aber eine spätere Begegnung, die sich zufällig ergab. Heinecke hatte Literatur, Geschichte und Philosophie studiert, Kochrezepte verfasst und auch mal mit dem Gedanken gespielt, Schriftsteller zu werden. Schließlich war er beim Südwestfunk gelandet, wo er in der Dokumentation jobbte, aber auch schon eigene Hörfunkbeiträge produzieren durfte.

„Eines Tages fragte mich mein Chef, ob ich mir vorstellen könne, einen erblindeten Zeitungsjournalisten beim Hörfunk einzuarbeiten“, sagt Heinecke, der nicht nur vom Schicksal, sondern auch von der Persönlichkeit dieses Mannes beeindruckt war, der bei einem Autounfall sein Augenlicht verloren hatte. Es wurde eine erfolgreiche Zusammenarbeit und auch für Heinecke eine wichtige Erfahrung, denn er begegnete keinem gebrochenen Menschen, sondern einem humorvollen und optimistischen Kollegen mit durch und durch positiver Weltsicht. „Dass ein Blinder nicht melancholisch und verbittert ist, sondern fröhlich und witzig sein kann, hätte ich mir zuvor niemals vorgestellt. Psychisch war er viel stabiler als ich“, erinnert sich Heinecke, der nach Ende der zweijährigen Schulung eine Geschäftsidee hatte: Warum sollten Blinde nur Klavierstimmer, Telefonistin oder Masseur werden können? Sollte man nicht eher nach Möglichkeiten für weitere Berufsqualifikationen suchen, etwa zum Rundfunkredakteur?

Heinecke knüpfte Kontakt zur Stiftung Blindenanstalt von 1837 in Frankfurt, schrieb Konzepte und Anträge, trieb Fördergelder auf und etablierte eine erfolgreiche Ausbildung für blinde Hörfunkdokumentare. „Ich fühle mich nicht als Gutmensch, mir geht es nicht um Hilfsaktionen, sondern um Begegnungen als Möglichkeit des gegenseitigen Lernens“, sagt Heinecke, für den Begegnung das Gegenteil von Ausgrenzung ist. Schon aufgrund seiner familiären Geschichte hat er sich immer wieder mit Ausgrenzung beschäftig: Der Vater war ganz im Sinn der NS-Ideologie erzogen, die Mutter als Tochter eines Juden ausgegrenzt und von Verfolgung bedroht. „Die einzige Form zu lernen besteht in der Begegnung“, hatte Heinecke bei dem jüdischen Philosophen Martin Buber gelesen, und begriffen, welche Chancen Begegnungen eröffnen. Warum nicht auch zwischen Sehenden und Blinden?

Vor gut 25 Jahren, im Dezember 1988, probierte Heinecke etwas Neues aus: Mit 1000 Mark Startkapital mietete er einen Raum, der komplett abgedunkelt, mit verschiedenen Hindernissen und einer akustischen Landschaft ausgestattet wurde. Er gab Besuchern Krückstöcke in die Hand und ließ sie von Blinden führen. Damit war vor einem Vierteljahrhundert der „Dialog im Dunklen“ geboren.

Schnell spürte er, dass das Konzept trägt, die Idee Kraft hat und auf Dauer funktionieren würde. Zunächst betrieb er den „Dialog“ noch unter dem organisatorischen Dach der Blindenanstalt, die er von vier auf 35 Mitarbeiter aufbaute. 1995 wurde ihm der Rahmen aber zu eng und er machte sich selbstständig. Am 1. April 2000 konnte er in einem Speicher am Alten Wandrahm den „Dialog im Dunklen“ eröffnen. Ursprünglich waren lediglich drei Jahre geplant, jetzt sind schon mehr als 14 daraus geworden. Zusätzlich zur Ausstellung gibt es dort auch Seminare und Workshops, in denen etwa Führungskräfte aus der Wirtschaft mit absoluter Dunkelheit konfrontiert werden – was mitunter auch zu einer Lehrstunde in Demut werden kann. Außerdem gibt es die Möglichkeit, ein „Dinner in the Dark“ zu buchen.

Neben Hamburg betreibt die Firma Dialogue Enterprise auch in Frankfurt eine Ausstellung, aber die Idee hat sich inzwischen weltweit durchgesetzt. In Kooperation mit privaten Investoren oder Blindenorganisationen exportiert Heinecke die Ausstellung inzwischen in viele Städte, von Hongkong bis Buenos Aires, von Mailand bis Taipeh, von Moskau bis Singapur. „Wir liefern das Konzept und die Beratung, vor Ort werden die Ausstellungen dann auf der Grundlage einer Franchising-Vereinbarung betrieben“, sagt Heinecke. „Man kann schon sagen, dass die Idee von Hamburg in die Welt gegangen ist, bis jetzt gibt es den ‚Dialogue in the Dark‘ in 38 Ländern. Die Referenzausstellung ist aber am Alten Wandrahm, hier können die internationalen Partner sehen, dass unser Konzept funktioniert.“

Jahr für Jahr kommen 85.000 Menschen in die „Dialog“-Räume in der Speicherstadt. Mehr geht nicht, denn damit ist die Kapazität erschöpft. Aber Heinecke, der sich mit der HHLA inzwischen auf einen langfristigen Mietvertrag geeinigt hat, arbeitet längst an neuen Konzepten. Im bislang noch leer stehenden ersten Boden des Gebäudes soll im September der „Dialog im Stillen“ eröffnet werden, wo es um nonverbale Kommunikation und Gehörlosigkeit gehen wird. Das Erlebnis des Alters soll später Thema im „Dialog mit der Zeit“ werden, geplant ist außerdem eine Kinder-Ausstellung mit dem Schwerpunkt Empathie.

Den Dialog mit der Zeit führt der 58-Jährige, der mit einer Israelin verheiratet ist, auf ganz eigene Weise, ohne dabei gehetzt zu wirken. Mit seiner Familie wohnt er in Eppendorf und in Paris, ist aber weltweit unterwegs. Und worin besteht das Geheimnis seines Erfolgs als Sozialunternehmer? „Ich glaube nicht, dass die Leute, die zu uns kommen, eine besondere Affinität zu Behinderten haben“, sagt er nachdenklich: „Aber den Perspektivwechsel, den wir ihnen bieten, finden sie spannend, weil er ihnen die Möglichkeit eröffnet, sich selbst auf neue Weise kennenzulernen. Viele reden über Inklusion. Bei uns wird sie täglich praktiziert.“