Ein Besuch beim Wacken Open Air beweist, dass Metalfans nicht so böse sind, wie sie aussehen

Hamburg. Wer es nicht kennt, das Wacken-Gefühl, der schüttelt vielleicht den Kopf darüber, dass alljährlich 75.000 zahlende Gäste (und fast 10.000 weitere Menschen, die auf dem Festival arbeiten) den Alltag Alltag sein lassen und sich in der schleswig-holsteinischen Pampa zusammenfinden. Dröhnend laute Musik, massive Abstriche im Ernährungs- und Hygienebereich, von Wetterkapriolen nur durch eine Zeltplane getrennt, dazu die schiere Masse der anderen Menschen. Das kann doch kein Spaß sein, kein Urlaub und schon gar nichts, für das man freiwillig eine Menge Geld bezahlt.

Kann es sehr wohl, wie der alljährliche Run auf die Tickets beweist. Schon im September 2012 war das gerade zu Ende gegangene 24. Wacken Open Air ausverkauft, da standen die meisten Bands noch lange nicht fest. Dass man sich am Sonnabend bei Alice Cooper zu „School‘s Out“ oder „Poison“ singend in den Armen liegen würde, dass man einen Tag zuvor Anvil, die Kanadier, die erst durch eine Dokumentation über ihre nie richtig in Gang gekommene Karriere bekannt wurden, im ebenso lauten wie heißen Zelt feiern würde, konnte da noch niemand ahnen. Dennoch werden schon an diesem Montagmorgen mehrere Tausend Tickets für die Jubiläumsausgabe im kommenden Jahr bestellt sein, von Metalfans, für die Wacken zum jährlichen Kalender gehört wie Weihnachten und Mamas Geburtstag.

Das Gefühl, zu einer Gemeinschaft zu gehören, macht Wacken so besonders

Denn das Wacken Open Air ist mehr als nur ein Musikfestival. Es ist ein tagelanges Familientreffen – ohne den grummelnden Opa und die zickige Schwiegermutter. Gemeinsame Campingpläne werden bereits Monate im Voraus geschmiedet. Die Anreisewelle schwappt aus lauter Panik, man würde sein kleines Zeltdorf in dieser temporären Großstadt nicht zusammen aufstellen können, jedes Jahr früher in den Kreis Steinburg. Freundschaften, deren Ursprung zwischen Bierständen und Bühnen liegt, werden dort gepflegt, neue entstehen. Und selbst, wenn man sich über kaum eine Band einig ist, wenn der eine vom klassischen Thrash Metal der Marke Anthrax nicht genug bekommen kann, während der andere vor lauter Freude über die operettenhaften Klänge von Nightwish ganz aus dem Häuschen gerät: Was soll‘s. Die Bands, die Musik, sind nicht nebensächlich in Wacken. Aber die Zugehörigkeit zur großen Gemeinschaft der Metalfans ist es, die das Festival zu etwas Besonderem macht.

Kaum eine Musikszene ist ausdifferenzierter als die des Heavy Metal, kaum eine kennt mehr Subgenres, Verzweigungen und Spielarten. Zwischen dem komplexen, düsteren Death Metal von Gojira und dem einige Stunden später erklingenden fröhlichen Power Metal von Sabaton, der zuverlässig Ohrwürmer hinterlässt, gibt es wenig gemeinsame Nenner. Doch Fans beider Bands würden sich deswegen nicht in die (langen) Haare kriegen.

Lieber erweist man gemeinsam den Altvorderen wie Alice Cooper, Doro oder Lemmy Kilmister die Ehre. Gerade der Motörhead-Frontmann wird sich über den moralischen Beistand freuen. Der 67-Jährige hatte im Vorfeld aus gesundheitlichen Gründen die gesamte Festival-Tournee seiner Band abgesagt. Doch den Auftritt in Wacken wollte er sich nicht nehmen lassen. Am Freitagabend, nach einem der wohl heißesten Festivaltage der vergangenen Jahre, reichte die Kraft aber nur zu einem knapp halbstündigen Kurzauftritt. Doch von Verärgerung war bei den Fans nichts zu spüren – dafür machte sich Besorgnis breit. Erst die per Festival-App und Mundpropaganda verbreitete Mitteilung, dass er wohlauf sei, beruhigte die Gemüter ein wenig. Ist man doch gemeinhin der Auffassung, dass nur eine größere Naturkatastrophe einem Lemmy Kilmister etwas anhaben könnte.

Doch nicht nur die Musiker und die Fans freuen sich immer wieder aufs Neue auf und über „ihr“ Festival. Auch diejenigen, deren Arbeitsplatz 51 Wochen im Jahr ganz woanders liegt, sind häufig Wiederholungstäter. Ob Sanitäter, Polizist, Barkraft oder Teil des Veranstaltungs-Teams: Man ist sich einig, dass es kaum eine angenehmere Großveranstaltung gibt als die aus der Ferne gern skeptisch beäugte Zusammenkunft der Fans harter und härtester Musik. Während Agnostic Front in der Gluthitze des Freitagnachmittags die Aufbauten der Black Stage zum Erzittern bringt und Soilwork einige Meter weiter Gleiches mit der Party Stage macht, kümmern sich Helfer aus dem ganzen Bundesgebiet um die kleineren und größeren Blessuren, die entstehen, wenn man ohne Kopfbedeckung den ganzen Tag auf dem Gelände herumturnt.

Brav warten die Patienten in Reih und Glied vor dem großen Sanitätszelt auf eine Behandlung. Oder zumindest auf den guten Ratschlag, in den nächsten Stunden das Bier gegen große Mengen Wasser zu tauschen. Niemand schubst oder drängelt. Dafür gibt es schließlich den Platz vor der Bühne.

Und es mag etwas merkwürdig oder sogar gefährlich anmuten, das wilde Gerangel, die im Kreis umher oder aufeinander zu rennenden Leute. Aber wer einmal gesehen hat, wie sich sechs wildfremde Menschen in Sekundenschnelle um einen gefallenen Siebten scharen und ihm wieder auf die Füße helfen, der beginnt zu ahnen, dass hinter Tod und Zerstörung in den Songs, martialischem Auftreten und einem Dresscode, der zu besagen scheint, dass man nur deshalb Schwarz trägt, weil noch nichts Dunkleres erfunden wurde, eine Menge großer Herzen steckt. Auch wenn das jetzt kitschig klingt.

Doch wer das Wacken Open Air einmal live erlebt hat, der weiß: Es ist die reine Wahrheit, zumindest für ein paar Tage im Jahr.