Der in Deutschland geborene Türke Murat Kurnaz gerät zwischen die Fronten des Krieges in Afghanistan - und landet als Häftling im berüchtigten US-Lager Guantánamo. Die unglaubliche Geschichte ist jetzt im Kino zu sehen: “Fünf Jahre Leben“.

Er wusste zuerst nicht, was sie wollten, ausgerechnet von ihm. Immer wieder verhörten sie ihn, auf Englisch, das er nicht verstand, stundenlang, manchmal auch nachts. Sie stellten immer wieder die gleichen Fragen: Ob er Murat Kunn heiße. Obwohl sie seinen Reisepass in der Hand hatten, in dem klar und deutlich Murat Kurnaz stand. Schon im US-Militärgefängnis in Kandahar misshandelten sie ihn, hängten ihn an den Armen auf. Als er im Februar 2002 nach Guantánamo geflogen wurde, hatte der junge Bremer das Fürchten schon gelernt. Aber noch nicht genug.

1725 Tage lang war Murat Kurnaz in Gefangenschaft, bevor er im August 2006 entlassen wurde. Nichts, was ein Kinofilm zeigen könnte, sei so brutal wie die Wirklichkeit in Guantánamo, sagt er heute.

Der Film "Fünf Jahre Leben", der auch auf Kurnaz' gleichnamigem Buch basiert, hat auch nicht diesen dokumentarischen Anspruch. Regisseur Stefan Schaller interessiert sich mehr für einen psychologischen Aspekt: Sind eintönige Verhöre, monatelange Isolationshaft, Schlafentzug, Waterboarding und Beschallung mit ohrenbetäubender Popmusik wirklich Mittel, um wahre Aussagen zu erlangen? Was bewegt die Vernehmer? Vor allem dann, wenn sie schon wissen, dass der Beschuldigte nicht der Mann ist, für den sie ihn hielten?

"Allah, gib mir Geduld und Kraft und beschütze mich" murmelt eine leise Stimme in der Einstiegsszene, in der ein Boxer beim Training auf einen Sandsack drischt. Wie ein Mantra klingt das Gebet des jungen Bremer Kampfsportlers Kurnaz (Sascha Alexander Gersak). Der Schnitt auf die Käfigzellen von Guantánamo könnte nicht härter sein. Wenn die Wärter in seine Zelle stürmen, tragen sie Schutzanzüge und Helme, brüllen, fesseln den Häftling und schleifen ihn zum Verhör. Schon der Lärm gehört zum System.

Guantánamo sei nur geschaffen worden, um einen rechtsfreien Raum zu ermöglichen, hat der britische -Häftling Moazzam Begg einmal gesagt. Guantánamo soll ein Raum sein, in dem die Gefangenen nie wissen, was kommt. Auch Kurnaz weiß es nicht. Ein Mitgefangener mit amputierten Unterschenkeln behauptet, der Gefängnisarzt habe sie ihm einfach abgehackt. Die Mithäftlinge glauben ihm. Einer wird vor Angst sterben.

Deshalb ist Kurnaz erleichtert, als ihm eines Tages ein neuer Vernehmer gegenübersitzt. Gail Holford (der britische Bühnenstar Ben Miles) bietet Hilfe an, wirbt um Vertrauen. Er herrscht sogar die Wachen an, stellt sich scheinbar auf Kurnaz' Seite.

Allmählich erzeugt der Verhörspezialist ein exklusives Gesprächsklima. Kurnaz entspannt sich, beginnt zu erzählen, über sein Leben in Bremen als Türsteher, über die Sinnkrise nach dem Tod von Freunden, die Drogen nahmen, über die Suche nach dem Glauben. Er sei im Oktober 2001 nur nach Pakistan gereist, weil ihm sein Freund Serdal geraten habe, dort in einer Madrassa den Koran zu studieren.

Aber auch in diesem geschickt geknüpften Gesprächs-Kokon ist der Häftling nie sicher. Holford verunsichert ihn, behauptet etwa, Kurnaz' junge Frau habe die Ehe annulliert, Serdal habe sich bei einem Attentat in die Luft gesprengt. Kurnaz begreift schließlich, dass hier keine Hilfe wartet; dass es überhaupt nicht um Schuld oder Unschuld geht, sondern dass Holford ein Geständnis braucht.

Guantánamo ist eine Geständnismaschinerie. Der Vernehmer mag ein vernünftiger Mensch sein, sogar fähig zu Mitleid, aber er steht unter Erfolgsdruck wie ein Händler, der von Provisionen lebt. Die Verhöre werden zum Duell, in dem auch Holford zu brutalen Mitteln greift.

In "Fünf Jahre Leben" geht es nicht vorrangig um die Folgen von Folter wie in "Der Mann, der niemals lebte" oder der israelischen TV-Serie "Hatufim". Die Symbiose zwischen Macht und Ohmacht habe ihn gereizt, sagt Regisseur Schaller: "Ein Vernehmer und Familienvater, der im Glauben an die eigene Mission bis zum Äußersten geht und schließlich den Sinn des eigenen Handelns nicht mehr versteht", sei für ihn ein Sinnbild des politischen Versagens im Falle Kurnaz.

Dessen Unschuld sahen die US-Behörden schon ein knappes Jahr nach seiner Verhaftung als erwiesen an - und hielten ihn dennoch weiter fest. Von der Weigerung der deutschen Regierung, sich für ihn einzusetzen, erfuhr der damals 20-Jährige in Guantánamo nichts. Auf diese Hintergründe, den deutschen Part des Skandals, geht der Film nicht ein.

Murat Kurnaz lebt heute mit Frau und zwei Kindern wieder in Bremen. Der lange Bart, der ihn nach seiner Rückkehr berühmt machte, ist ab. Er wirkt bullig, entspannt, zugleich zurückhaltend, auch wenn er präzise antwortet. In der Realität habe er nicht einen, sondern drei bis vier Vernehmer gehabt, die sich über jeweils mehrere Monate abwechselten, sagt er im Interview. "Insgesamt hatte ich in den fünf Jahren sicher mehrere Hundert Verhörer." Dafür, dass "Fünf Jahre Leben" eine Low-Budget-Produktion sei, habe das Filmteam die Atmosphäre gut getroffen.

Über seine Gefühle während der Haft spricht er wenig. Ein besonders perfides Druckmittel, das im Film angewandt wird, hat er auch real erlebt: eine Schein-Freilassung, bei der Häftlinge mit verbundenen Augen in einen Hubschrauber gesetzt und dann kurz über dem Erdboden abgeworfen wurden. "Da war ich nicht der Einzige", sagt Kurnaz. "Das haben sie mit ausgewählten Gefangenen gemacht, um sie besonders unter Druck zu setzen. Bei einigen haben sie es geschafft, sie damit zu brechen."

Man hat ihn später oft gefragt, ob er naiv war. Ob er denn nichts von den Ausbildungslagern gewusst habe, in denen Islamisten von al-Qaida ausgebildet wurden? Er habe sich nicht mit Politik beschäftigt, hat er darauf geantwortet. Die Islamisten-Videos habe er erst nach seiner Entlassung gesehen. "Da habe ich geahnt, was da alles so ablief. Bei meiner Abreise 2001 war der Krieg in Afghanistan noch nicht ausgebrochen. Ich dachte, was soll in Pakistan passieren?" Er habe zwei Monate intensiv den Koran studieren und dann seine Frau nach Hause holen wollen, "ich hatte gerade geheiratet".

Die Amerikaner hätten über Afghanistan und Pakistan von Hubschraubern aus Flyer abgeworfen, mit Bildern für Einheimische, die nicht lesen und schreiben können. "Erstes Bild: ein Mann mit Bart, zweites Bild: amerikanisches Gefängnis, drittes Bild: amerikanische Dollar. Darunter stand: bis zu 3000 Dollar Kopfgeld. Diese Flyer haben dazu geführt, dass sogar Obdachlose eingefangen und als mögliche Terroristen verkauft wurden, und Ausländer."

Für das Kopfgeld erwarteten die Amerikaner eine Gegenleistung. In einer Szene des Films verweigert sich Kurnaz-Darsteller Gersak diesem System, er will nicht "liefern", nicht bekennen, was er nicht getan hat. Von ihm geht eine eigentümliche Stärke aus.

Welche Rolle der Islam für den Häftling spielte, beleuchtet der Film nicht - leider. Auch Kurnaz strahlt Stärke aus. Hat sich sein Glaube in Guantánamo vertieft? "Mein Glaube hat sich schon verstärkt, ja. Im Islam ist eines der wichtigsten Dinge, nie die Hoffnung aufzugeben, weil man nie weiß, was Gott für den einzelnen Menschen vorgesehen hat. Diese Vorstellung hat mir geholfen, das alles zu ertragen."

Im Film kriecht eines Tages ein Leguan durch ein Abflussrohr in Kurnaz' Käfigzelle. Den habe es tatsächlich gegeben, er habe ihn gefüttert, erzählt Kurnaz. "Wenn das herauskam, wurde ich mit zwei Monaten Isolationshaft bestraft. Die Leguane stehen nach dem US-Gesetz unter Schutz." Die Wärter hätten "sehr aufgepasst, dass wir sie nicht anfassen oder dass ihnen etwas zustößt". In Guantánamo ist das Leben der Leguane sicherer als das der Häftlinge.

Bewertung: empfehlenswert

„5 Jahre Leben“ D 2012, 96 Min., ab 12 J., R: Stefan Schaller, D: Sascha Gersak, Ben Miles, täglich im Zeise; Internet: www.zorrofilm.de