Wolf Kerschek, Hamburger Jazzpreisträger 2013, lebt mit Feuereifer für die Musik, für seine Hochschule, für seine Familie. Das Abendblatt hat sich umgeschaut.

Hamburg. Seine Frisur hat etwas wild Barockes, sie sieht aus, als hätte Bach dauerhaft seinen Kamm verlegt. Aber zur schwarzen, da und dort von einem grauen Haar wie von innen beleuchteten Lockenpracht trägt Wolf Kerschek einen gerade wieder mal auf den Millimeter genau ausrasierten Bart, der in sein Gesicht so deutliche Konturen zeichnet wie einst die dunklen Linien in die farbigen Cover-Illustrationen von Celestino Piatti auf den dtv-Taschenbüchern.

Etwas organisiert Regelloses ist um Wolf Kerschek, der am kommenden Sonnabend im Rahmen des Elbjazz Festivals den Hamburger Jazzpreis 2013 in Empfang nehmen wird. Die musikalischen Fähigkeiten und Arbeitsfelder dieses schmalen, nicht sehr groß gewachsenen Mannes blühen und sprießen in seltener Üppigkeit, und sie wachsen in viele Richtungen gleichzeitig. Und doch hat er alles im Griff. Das Pensum, das er als Vibrafonist, Arrangeur, Produzent, Dirigent und Komponist und im derzeitigen Hauptberuf als Professor für Jazzkomposition, Ensembleleitung und Filmmusik und Leiter des Jazzstudiengangs an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg leistet, ist eigentlich der blanke Irrsinn. Es langt locker für mehrere Leben.

Aber auch Kerschek hat wohl nur dieses eine. Und was er daraus macht, ist unbedingt preiswürdig. Im Hamburger Musikleben ist er der freundliche, fantasievolle, rastlose Brückenbauer zwischen den Generationen und zwischen den musikalischen Welten. An einem Abend kann man ihn als Dirigenten der Hamburger Symphoniker bei der Uraufführung eines Werks von Markus Stockhausen erleben, am nächsten probt er bis tief in die Nacht mit der Bigband der Hochschule an einem ehrgeizigen neuen Programm, am dritten steht er auf der Bühne der Bar 227 an der Sternbrücke und klöppelt Entrücktes auf seinem Vibrafon.

Im Studio unter Dachschrägen hat auch schon Roberto Blanco gesungen

Die Tage sind genauso dicht getaktet. Unterrichten. Musik aufnehmen in seinem Studio unter Dachschrägen im gemieteten Häuschen in Bramfeld, in dem er auch mal einen Song mit Roberto Blanco in zwei Takes im Kasten hat. Ausdrucken Hunderter Seiten von selbst geschriebenen Noten für die Musiker. Ausdenken von Strategien zur Stärkung seines Studiengangs. Netzwerken – mit Musikern, mit Kollegen in der Hochschule. Und frühmorgens den kleinen Sohn zur Krippe bringen.

Seine wunderschöne, aus Nigeria stammende Frau Josephine gibt Wolf Kerschek Erdung und seinem Herzen ein Zuhause. Wie sehr dieser an allen Ecken und Enden zugleich brennende Aktionskünstler seine Familie liebt, liest der Besucher auch an den vielen privaten Fotos an fast jeder Zimmerwand ab. Kürzlich hat Josephine im Flur zum Dachstudio ein paar goldene Schallplatten und Kerscheks Echo-Urkunde für seine Filmmusik zur TV-Serie „Little Amadeus“ dazugehängt. „Da hatte ich so eine Selbstzweifelphase“, sagt er. Eigentlich gelten ihm solche Trophäen nichts, aber dass er noch mehr davon hat, das sagt er dann doch.

Wolf Kerscheks Schaffenskraft scheint ebenso unbegrenzt wie sein Schlafmangel. Jetzt, in den Tagen vor der Preisverleihung, muss er sich nicht nur um die Musik und die Ausgestaltung des Preisträgerkonzerts kümmern, bei dem er die NDR Bigband dirigieren und die bisherigen Hamburger Jazzpreisträger auf der Bühne zusammenbringen wird – den Saxofonisten Gabriel Coburger, die Sängerin Ulita Knaus und den Pianisten Vladislav Sendecki, alle drei langjährige Freunde und Weggefährten.

Im Theater im Zimmer leitet er außerdem gerade die Proben mit dem litauischen Musiker und DJ Mario Basanov und einem aus 30 Musikern bestehenden Ad-hoc-Hochschulorchester für ein Konzert beim Elbjazz. Wolf Kerschek hat zu Loops und musikalischem Rohmaterial, das Basanov vom Laptop abspielt, eine bestrickend vielfältig arrangierte Musik geschrieben, die nicht so ganz einfach zu spielen ist und zu der die Harfinistin oder die Bassklarinettistin genauso improvisierte Soli beisteuern sollen wie die Kollegen aus der Jazzabteilung. „Dass Klassiker das Improvisieren nicht lernen könnten, ist völliger Quatsch“, sagt er. Und dann ist da noch dieses Projekt mit dem Posaunisten Nils Wogram und Kerscheks Hochschul-Bigband auf dem Elbjazz, für das geprobt werden muss.

Wenn man nicht weiß, wo einem der Kopf steht, kann man ihn verlieren oder sich dem Strudel der Ereignisse hingeben. Kerschek tut Letzteres. Das Einzige, was ihn manchmal brutal ausbremst, ist sein Körper. Zuletzt zwang ihn ein Hörsturz zu einer Pause.

Das Muster kennt er aus seiner Jugendzeit „Ich wollte ja Klassikpianist werden“, erzählt Wolf Kerschek in der Wohnküche beim Kaffee. Weil der am 16. September 1969 in Elmshorn geborene Sohn zweier auch Musik unterrichtender Lehrer aber „so beschissen ehrgeizig“ war und bis zu neun Stunden am Tag übte, nahmen seine Fingersehnen dauerhaft Schaden. Aus war’s mit dem Klavierspielen als Beruf.

Auf Anraten des Musiklehrers in Flensburg, wo er aufwuchs, wechselte Kerschek zum Vibrafon – und übte, ein Postgraduate-Stipendium des DAAD an der Top-Jazzakademie Berklee in Boston schon fast in der Tasche, im Examensstress des Studiums in Hamburg wieder wie verrückt, diesmal eine vierstimmige Bach-Fuge auf der Marimba. Dabei biss er sich allen Ernstes einen Schneidezahn aus. Doch Verbissenheit und überstrapazierte Turboenergie, die Schatten seines Fleißes, sollen jetzt ein Ende haben. „Ich bin über 40 und muss bald einen Gang zurückschalten“, sagt Kerschek. „Schon für meinen Jungen.“