Ein Kommentar von Thomas Andre

Man muss noch nicht einmal besonders kulturpessimistisch sein, um sich manchmal zu fragen, ob Schüler heutzutage noch gerne lesen. Es war ja doch in diesem nebulösen Ort namens Früher schon schwer genug, der Flimmerkiste oder dem PC zu widerstehen, an dem wir Computerspieler zockten, bis Mama das Licht ausmachte. Wie muss das erst heute sein, wo die schöne bunte Facebook- und YouTubewelt für jede Ablenkung zu haben ist und verführerisch wenig Konzentrationsfähigkeit beansprucht.

Aber nicht nur Facebook ist toll, sondern auch Bücher sind es. Das versuchen Lehrer allüberall ihren Schülern zu vermitteln - und zwar exakt so lange, wie es den Deutschunterricht gibt (oder die benachbarten Disziplinen Englisch, Französisch und Spanisch). Wenn ein Lehrer seiner Klasse, sollte sie unwillig sein, erklären möchte, warum lesen wichtig ist, dann könnte er sagen: Es geht um Weltauslegung, Identitätsfindung, Selbsterkenntnis. Um Fantasie, Kontemplation, Intellekt. Um ästhetische Bildung und Erbauung. Wer Goethes "Wahlverwandtschaften" liest, der erkennt die Kräfte wieder, die Menschen in Liebe zueinander finden lässt; jeder 17-Jährige liest dieses Buch 200 Jahre nach dessen Erscheinen immer noch mit Gewinn.

Wenn es so etwas wie einen Kanon gibt, den ein junger Mensch gelesen haben sollte, dann gehören in diesen aber auch junge Stoffe. Aus der Gegenwartsliteratur lässt sich reichlich schöpfen. Und das tun die Hamburger Deutschlehrer, ohne auf die Maßstäbe setzenden literarischen Großtaten von anno dunnemals zu verzichten. Da kann man wenig dran aussetzen, denn die Mischung ist immer noch perfekt: Goethe liest man im Bus, Finn-Ole Heinrich besucht man sogar auf seiner Lesung.