Der Dokumentarfilm “Töte zuerst“, eine NDR-Koproduktion, führt in das Innerste des israelischen Schin Bet. Am Wochenende kann er einen Oscar gewinnen.

Wir gewinnen jede Schlacht, aber wir verlieren den Krieg, sagt einer der Geheimdienstler resigniert, und dann ist Dror Morehs Film "The Gatekeepers" vorbei. "Töte zuerst", wie der Film auf Deutsch heißt, ist eine dokumentarische Arbeit über den israelischen Geheimdienst Schin Bet, unter anderem vor der Kamera: sechs ehemalige Direktoren der Einrichtung, die hierzulande weniger bekannt ist als der Auslandsgeheimdienst Mossad.

Der ist ein Mythos und für seine Effizienz berühmt, aber die Arbeit von Schin Bet ist oft nicht weniger spektakulär. An der Arbeit des Inlandsgeheimdienstes kann man den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern in seiner scheinbaren Ausweglosigkeit studieren. Das Werk des israelischen Filmemachers Moreh, eine Koproduktion mit dem NDR und Arte, ist für den Oscar nominiert - und gilt neben dem schwedisch-britischen Musikerfilm "Searching for Sugar Man" als Mitfavorit. Er hat in seiner Heimat hohe Wellen geschlagen, weil die Aussagen der Geheimdienstler vernichtend sind - ihre Vorwürfe zielen auf die Regierungen des Acht-Millionen-Einwohner-Landes, die seit Jahrzehnten keine Antworten auf die Palästinenserfrage finden.

Die ehemals mächtigen Männer an der Spitze von Schin Bet heißen Avraham Shalom, Avi Dichter, Ami Ajalon, Karmi Gilon, Jaakow Peri und Juval Diskin, sie sind heute Abgeordnete in der Knesset, Unternehmer oder Pensionäre. Und vor der Kamera des Interviewers Dror Moreh sind sie vor allem Patrioten und Verteidiger des Vaterlands. Man ist gut beraten als Zuschauer, sich manche Geheimdienstlogik nicht anzueignen, gerät allerdings ohnehin nicht zwangsläufig in Versuchung. Denn wenn es um die Kernfragen geht, um sogenannte Kollateralschäden bei Liquidationen von Terroristen und um die (frühere) Anwesenheit der israelischen Armee in Gaza, sind sich die getrennt vor die Kamera tretenden Agenten zum einen nicht unbedingt einig. Zum anderen sind die Überzeugungen, die sie im Geheimdienst gewonnen haben, im skeptischen und bisweilen auch überkritischen Westen durchaus anschlussfähig.

Der Film arbeitet mit alten Aufnahmen des Geheimdienstes, und diese sind nichts anderes als beklemmend, weil sie die Macht von Schin Bet und Armee zeigen: Palästinensische Gefangene nach dem Sechstagekrieg, palästinensische Gefangene nach den ersten Attacken auf israelische Soldaten - Besatzer - und dazu die Einlassung eines ehemaligen Chefs der Agententruppe, dass es Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende gewesen sind, die Schin Bet im Laufe der Jahre verhört hatte. Der Film beginnt mit einem Raketenschlag gegen einen Terroristen; ein gezieltes Attentat von oben. Aufnahmen aus der Luft, ein fahrendes Fahrzeug, dann die Explosion. Jeder habe seine Bedenken, sagt Juval Diskin, von 2005 bis 2011 Direktor von Schin Bet, "diese Macht ist doch nicht normal. Du kannst ein Leben auslöschen, wenn auch eines von Terroristen." Und er sagt noch etwas, es ist gleich die erste Bemerkung, sie steht wie ein Motto vor dem gesamten Film: "Als Direktor des Geheimdienstes begreifst du schnell, dass Politiker einfache Lösungen wollen - keine drei oder vier Möglichkeiten." Dramaturgisch ist "Töte zuerst" geschickt, und dass er moralisch auch auf der Seite der Unterdrückten steht, offenbart sich zum Beispiel in der letzten Szene. Sie zeigt ein mit der Nachtkamera aufgenommenes Eindringen in eine palästinensische Wohnung. Ein Terrorverdächtiger wird aus der Familie gerissen, die ängstlich das Geschehen verfolgt. Das sei immer hart, sagt ein Geheimdienstler sinngemäß, "und wenn du aus dem Dienst ausscheidest, stehst du ein wenig links".

Wie weit darf ein Geheimdienst gehen? Wie weit darf ein Staat gehen? Diese Fragen stellt dieser hochpolitische Film. Die Antworten sind bemerkenswert klar und werden, so scheint es, beinah einstimmig gefällt: Die Gegenwart ist düster, weil der Staat im Friedensprozess versagt und die Geheimdienste im Stich gelassen hat. Die tragische Lichtgestalt in den Geschichten, die der Film erzählt, ist der 1995 ermordete Jitzchak Rabin. Sein Tod war ein Menetekel. Es gibt keine Alternative zum Friedensprozess, das ist die Aussage, und es war "ein dreckiger kleiner Mörder" (so einer der Geheimdienstchefs), ein Israeli bekanntlich, der den Friedensprozess zerstörte. "Töte zuerst" ist auch wegen dieser schroffen Statements erhellend. Er zeigt einen Geheimdienst, der um seine Verlorenheit in einem Kampf weiß, in dem jeder tote Terrorist einen neuen gebiert.

"Töte zuerst" Di 5.3., 20.15 Uhr, Arte und Mi 6.3., 22.45 Uhr, ARD