Die Choreografen John Neumeier und Antje Pfundtner haben sich beide mit dem bekannten Ballettklassiker“Nussknacker“ beschäftigt.

Hamburg. Die "Wahnsinnsidee", sich an den "Nussknacker" zu wagen, schien Antje Pfundtner anfangs vermessen. Es gibt hier doch einen weltberühmten, dachte sie, den von John Neumeier. Kopfzerbrechen allerdings bereitete das Ganze der zeitgenössischen Hamburger Choreografin nur kurz. Dann besiegten ihr Wunsch, Mut und Eigenwille alle Zweifel. Der Mythos "Nussknacker" bietet Raum für mehr als eine Lesart, auch in derselben Stadt.

In der Recherche und Beschäftigung mit dem Ballett stellten sich Antje Pfundtner interessante Fragen, denen sie in ihrem Stück mit acht Performern und Tänzern sowie dem Komponisten und Musiker Sven Kacirek nun nachspürt: Wie funktioniert Erinnerung im Gedächtnis und im Körper des Tänzers? Welche Rolle spielt die Musik im Tanz? Und worin besteht er denn nun eigentlich, dieser Mythos "Nussknacker"?

In der Kampnagel-Uraufführung am 12. Dezember gibt die Choreografin darauf Antworten, sozusagen in einer "Überschreibung des Ballett-Klassikers", der zum abgenudelten Weihnachtsrenner verkam. "Ich habe den 'Nussknacker' immer gehasst", sagt John Neumeier und erinnert sich: "Zum ersten Mal sah ich den Grand Pas de deux als Jugendlicher in Milwaukee bei einem Gastspiel des Ballet de Monte Carlo, dann in New York die Balanchine-Fassung." Der Choreograf Neumeier nahm sich später vor: würde er je einen Ballettklassiker inszenieren, dann sicherlich nicht den "Nussknacker". "Im ersten Akt gibt es in der traditionellen Fassung kaum Tanz, es gibt die Zuckerfee, irgendwann schneit es, und dann folgt ein Divertissement in bunten Kostümen ohne Zusammenhang. Es war mir alles einfach zu 'süß'." Diese Ablehnung fand Pfundtner bei ihren Recherchen zum Stück durch Tänzer bestätigt, die es als "hohl" oder "reine Nummernrevue" bezeichneten.

Jedermann meint ihn zu kennen, nur weil er den "Tanz der Rohrflöten" oder der Zuckerfee im Ohr hat. Überraschend ist jedoch ein Aspekt: In ihrem persönlichen Zugriff ähnelt Pfundtners Stück in gewisser Weise John Neumeiers "Nussknacker". Denn die 1971 entstandene, damals revolutionäre und (außer in diesem Jahr) regelmäßig um Weihnachten herum aufgeführte Fassung beschäftigt sich ebenfalls aus autobiografischer Sichtweise mit dem Tanz.

Die Choreografen aus verschiedenen Generationen und Traditionen mit unterschiedlicher Ausbildung und Arbeitsweise entdecken über den "Nussknacker" sogar Gemeinsamkeiten.

Aber wieso hat Neumeier das Ballett trotz seiner Abneigung dann doch erfolgreich inszeniert, das Pfundtner als 16-Jährige erstmals sah? "Es waren praktische Gründe. Ich fing als Ballettdirektor in Frankfurt an und wollte die Compagnie tanzen lassen. Es gab schon eine Dekoration und Kostüme", erklärt Neumeier. Er veränderte jedoch innerhalb von vier Wochen das Konzept radikal, sein "Nussknacker" spielt nicht unter dem Weihnachtsbaum, sondern an Maries zwölftem Geburtstag. "In dem Alter hört jedes Mädchen auf, mit Puppen zu spielen. Marie steht an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie träumt vom Tanzen und Theater und verliebt sich erstmals, in den Kadettenführer Günther."

Neumeiers Sicht auf das Ballett hat auch mit persönlichen Erinnerungen zu tun, einem zentralen Thema auch in Pfundtners Stück. "Ich habe nie den Moment vergessen, als ich zum ersten Mal den Fuß auf die Bretter einer Bühne setzte", erzählt er. "Das war bei einem Ballet-Theatre-Gastspiel im Pabst Theater in Milwaukee." Im 2. Akt von Neumeiers "Nussknacker" steigt Marie aus dem Orchestergraben auf die Bühne. "Der Augenblick ist absolut autobiografisch. Ja, denn ich bin Marie. Wäre ein Ballettdirektor wie Petipa zum Abendessen ins Haus meiner Eltern gekommen, wäre ich genau wie Marie gewesen, die vom Tanzen träumt." Die Choreografin Pfundtner beschäftigt sich allerdings mit Erinnerungen, die sich bei ihr durch dieses Werk einstellen: "Darum geht es bei meinem Ansatz des 'Nussknackers'. Insofern ist es keine Neuinterpretation des bestehenden Werks."

Was fasziniert die beiden Choreografen am Mythos "Nussknacker"? Es ist zum einen die Musik. Wie Neumeier, der schon als Junge eine "Nussknacker"-Platte hörte, war auch Pfundtner früh mit Tschaikowskys Musik vertraut. "Ich kenne sie aus meinen Tanzanfängen in Dortmund, denn meine Ballettlehrerin hat Märchen selbst geschrieben mit Figuren und Rollen für ihre Schüler und dazu die 'Nussknacker'-Musik verwendet." Auch für Neumeier ist es die Tschaikowsky-Partitur zum Ballett, das anfangs nicht sehr erfolgreich war. Außerdem sei es "the cash-cow of ballet", wie Neumeier sagt, ein "Goldesel", der den amerikanischen Compagnien das finanzielle Überleben sichert. Der "Nussknacker"-Besuch zu Weihnachten habe sich zu einer Art gesellschaftlichem Ritual entwickelt, meint Pfundtner, allemal in Amerika.

Sie und ihre Kollegen mit unterschiedlicher Ausbildung in Tanz, Schauspiel, Clowning oder Performance wollten die "hohe klassische Schule" am eigenen Leib erfahren. Pfundtner bat Neumeier um die Erlaubnis, ein Solo aus seinem "Nussknacker" mit der ehemaligen Solistin Heather Jurgensen zu probieren. "Es ging mir um das Erlebnis der Reibung zwischen den Formen. Es war sehr spannend, zu spüren und zu sehen, was diese Erfahrung in unseren Körpern hinterlassen hat und was später davon erinnert wurde." Pfundtner glaubt, dass viele Choreografen zwischen Ballett und zeitgenössischem Tanz zwar unterscheiden, das aber nicht betonen. "Ich vermute diesen 'Bruch' eher beim Publikum. Andererseits sind einige vielleicht froh, dass sie keine 'Nussknacker'-Kenner sein müssen." Ein spannendes Experiment bleibt es auf jeden Fall. Den Neumeier-Klassiker gibt es dann wohl wieder im kommenden Jahr. Wie immer kurz vor Weihnachten.

Antje Pfundtner: "Nussknacker". Uraufführung 12.12., 20 Uhr, Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampangel.de