John Neumeier spricht im Abendblatt-Interview über 40 Jahre Hamburg, Schmerzmittel, Mazurka-Momente und das Nachfolger-Thema.

Hamburg. Er habe einen "weichen Körper", sagt Neumeier - und in der Tat klingt auch seine Stimme sanft, schauen seine Augen ruhig. Ein Mann, der in sich ruht? Durchaus. Weil er Geschmeidigkeit mit Zähigkeit zu kombinieren weiß. Seit 40 Jahren leitet John Neumeier das Hamburg Ballett, das er zu einem eigenen Reich innerhalb der Staatsoper geformt hat: die Ballettschule, das Bundesjugendballett, natürlich das renommierte Ensemble. An diesem Sonntag beginnt mit dem "Nijinsky Epilog" (für den es ausnahmsweise noch Karten gibt) die Jubiläumssaison.

Hamburger Abendblatt: In der "FAZ" war kürzlich zu lesen, es gebe nur noch einen Grund für Musikfreunde nach Hamburg zu fahren: "die unverwüstliche Ballettlegende John Neumeier ..."

John Neumeier: Ja? Hab ich gar nicht gesehen! Wieso hab ich das nicht gesehen? (wendet sich zu seinem Pressesprecher) Du bist gefeuert!

Pressesprecher: Schon wieder?

Neumeier: Nein, ich freue mich natürlich und hoffe, dass es weiter geht.

Hat die Autorin denn recht?

Neumeier: Ich bin nicht der richtige Mensch, diese Frage zu beantworten, weil ich mitbeteiligt bin. Ich meine, die Alster ist auch schön.

Je höher man steigt, desto tiefer kann man fallen. Spüren Sie diesen Druck?

Neumeier: Man hat eine gewisse Verantwortung. Es gibt auch Leute, die mich kritisieren, insofern ist das ziemlich ausbalanciert. Ich bin ständig in Bewegung, denke nach, was ich verbessern könnte. Diese Konzentration ist wichtiger als so etwas zu lesen und zu genießen wie Balsam. Als Künstler ist man ohne Netz. Ich habe keine Sicherheit. Aber ich liebe, was ich mache, und glaube, dass das der Sinn meines Lebens ist.

Worauf verzichten Sie dafür?

Neumeier: Auf gar nichts.

Es gibt keinen Preis?

Neumeier: Es ist falsch, zu glauben, dass Künstler zu sein ein Opfer ist. Es ist ein Privileg. Ich lebe sehr intensiv, wenn ich arbeite und habe nicht das Gefühl, dass ich auf irgendetwas verzichte.

Was tun Sie, wenn Sie mal über die Stränge schlagen? Oder einfach nichts tun?

Neumeier: Das gibt es vielleicht mal im Urlaub. Momente, in denen ich an gar nichts denken will, aber komischerweise habe ich dann oft die besten Ideen. Oder ich komme nach Hause und schalte einen Krimi zur Entspannung ein. Morgens auf dem Crosstrainer gucke ich "Mad Men" oder "Glee".

Haben Sie nie daran gedacht wegzugehen? Irgendwo ganz neu anzufangen?

Neumeier: Natürlich. Es gab Momente, in denen ich dachte, ich will mich gern einer Volkstanzgruppe anschließen.

Bitte? Einer Volkstanzgruppe?

Neumeier: Ja! Mazurka, Mazurka, Mazurka! Nichts denken. Und einmal hatte ich schon ein richtiges Konzept für Wien ausgearbeitet, um das Ballett-Ensemble dort zu leiten. Hätte Hamburg das Ballettzentrum nicht genehmigt, wäre ich jetzt in Wien. Als Gastchoreograf zu arbeiten, das ist sehr verführerisch für mich. Ich habe gute Beziehungen geknüpft zum San Francisco Ballet oder National Ballet of Canada. Das sind Menschen, denen ich etwas geben könnte und die gäben auch mir etwas.

In welchen Momenten haben Sie gedacht: Ich will einfach nicht mehr?

Neumeier: Gerade jetzt, in diesem Moment, mit dem Nicht-Ausgleich der Tariferhöhungen. Hallo?! Ich habe 40 Jahre lang etwas aufgebaut, Leute kommen von überall her, um uns zu sehen und laden uns ein. Wir sind ein Aushängeschild für Hamburg - sollen aber mit zehn oder zwölf Tänzern weniger auskommen? Wie soll das gehen? Was für eine Form von Respekt ist das gegenüber meiner langen Arbeit? Da denke ich, warum muss ich so viel Energie investieren, es wäre vielleicht doch der richtige Moment zu sagen, lass es fallen.

Wie hat sich der Beruf des Tänzers seit Ihrer aktiven Zeit verändert?

Neumeier: Die Anforderungen sind viel höher. Sie können alle viel mehr als ich konnte. Aber auch die Ansprüche der jungen Tänzer sind gestiegen, sie sind cleverer. Wir wohnten in abgewrackten Hotels, fuhren mit dem Klapperbus. Ich wünsche mir heute manchmal mehr Hingabe, dass man nicht zu schnell ein fertiges Bild von sich hat.

Auch im Fußball herrscht heutzutage ein viel professionellerer Umgang mit dem Kapital Körper. Ist das vergleichbar?

Neumeier: Ja, vielleicht ein bisschen.

Trotzdem haben Sie nicht den Apparat wie im Profi-Fußball, wo Physiotherapeuten, Leistungsgdiagnostiker, Psychologen und Trainer die Mannschaft betreuen. Hätten Sie das manchmal gern?

Neumeier: Wir haben eine Masseuse und auf Tourneen nach China oder Japan haben wir einen Arzt dabei. Das ist nicht viel. Andererseits - ich weiß, es ist gefährlich, das zu sagen - finde ich, manchmal konzentriert es sich heute zu sehr auf solche Dinge. Das hatten wir doch früher alles nicht! Als ich damals in Stuttgart getanzt habe, haben wir geschaut, dass wir uns strecken und uns aufwärmen natürlich, aber so methodisch war es nie. Man muss doch erst mal sehen: Wie komme ich mit diesem Beruf zurecht? Will ich wirklich so gern tanzen, dass ich das auch ohne Psychologen schaffe? Man muss es wollen ! Man muss jeden Tag herkommen, vor der Tür stehen und sich sagen: Ja!

Sie sind ja als Intendant für Ihre Compagnie verantwortlich. Wie gehen Sie mit Themen um, die in der Regel unter der schönen Oberfläche bleiben: Magersucht, Schmerz, Tablettenabhängigkeit?

Neumeier: Wir müssen damit umgehen. Magersucht ist eine Krankheit. Man muss mit dem Betroffenen sprechen, sehen, was man tun kann. Wir sind da nicht blind. Der Umgang mit Schmerz aber ist sehr persönlich. Ich gehe nicht zu den Tänzern und frage: Was tut heute weh, Schätzchen? Das kann man nicht machen. Sie kommen auch nicht zu mir und sagen: Ich hab da ein Wehwehchen. Wir versuchen die besten Bedingungen zu schaffen, den besten Boden zum Beispiel, damit Unfälle vermieden werden.

Es geht ja vor allem um die harte Leistung, die die manchmal über die Grenze des Erträglichen geht. Ihre Tänzerin Silvia Azzoni hat im Interview ja einmal sehr frei über den alltäglichen Gebrauch von Schmerzmitteln gesprochen.

Neumeier: Der Alltag ist aber auch nicht nur Qual. Wir sind ja keine Masochisten. Zu den Schmerzen gehört eben auch eine emotionale Erfüllung auf der anderen Seite. Ich will eine bestimmte Linie erreichen, vielleicht tut es sehr weh, weil der Rücken sich nicht so biegen will, wie er soll. Aber morgen schaffe ich es - und das, was einen dabei erfüllt, das ist die Kunst. Niemand kommt mit der Peitsche und zwingt einen. Natürlich sind wir manchmal streng, aber nur wenn und weil es hilft.

Müssen Sie denn bisweilen einschreiten, um die Tänzer vor sich selbst, vor dem eigenen Ehrgeiz zu schützen?

Neumeier: Manchmal muss man überlegen, ob es wirklich der richtige Beruf ist. Ob viel Leidenschaft da ist - aber das Talent vielleicht doch nicht reicht.

Wie ist es bei Ihnen, wie viel Körpertraining machen Sie jeden Tag?

Neumeier: Ich bin jeden Tag auf dem Crosstrainer. Und wenn ich choreografiere, dann schmeiße ich mich überall hin. Ich habe einen sehr glücklichen, sehr weichen Körper. Ich war immer sehr schlecht zu meinem Körper, aber er hat sich nicht gerächt.

Tänzer und das Alter - das ist ein komplexes Problem. Wie gehen Sie persönlich mit Ihrem Alter um?

Neumeier: Das Thema fasziniert mich. Es gibt ja drei verschiedene Formen von Alter: Das Alter, das im Pass steht. Das Alter im Spiegel oder auf Fotos, vor dem man sich manchmal erschreckt. Und das innerliche Alter. Das ist ganz anders. Wenn ich hier im Haus im Fahrstuhl stehe und darüber nachdenke: Seit 40 Jahren kommst du hierher, wie kann das sein? Ich spüre das gar nicht.

Ein einziger, langer Tag?

Neumeier: Ja, genau. Es geht halt einfach weiter. Ich spüre keinen Verlust an Vitalität. Ich fliege von China nach Brisbane und gehe vom Flughafen direkt in die Probe, ich fliege von Brisbane nach Toronto und gehe in die Probe. Ich habe nie das Gefühl, ich müsste mich mal hinlegen. Es ist eine Gnade.

40 Jahre Hamburg Ballett, das heißt ja auch: 40 Jahre Hamburg. Gibt es für Sie ein Hamburg außerhalb der Staatsoper, des Ballettzentrums und Ihrer Stiftung?

Neumeier: Die Stadt ist ein Mysterium. Immer noch. Ich habe einen ausgesprochen schlechten Orientierungssinn, müssen Sie wissen. Ich entdecke aus dem Taxi heraus immer neue Orte. Ich schaue und denke: Wo bin ich denn hier gelandet, das sieht ja interessant aus!

Und lassen Sie das Taxi dann hin und wieder anhalten und steigen aus - oder entdecken Sie eher aus der Distanz?

Neumeier: Eher aus der Distanz. Ich gehe schon gern ins Theater. Und es gibt eine gewisse Portion gesellschaftlicher Ereignisse, die ich machen muss.

Sponsoren streicheln.

Neumeier: (lächelt) Um die Alster bin ich nur einmal gegangen, glaube ich. Ich war auch einmal auf dem Fischmarkt. Auf der Reeperbahn war ich auch mal. (Pause) Aber das war der gleiche Abend.

Wenn es Ihnen so gut geht - oder vielleicht: Obwohl es Ihnen so gut geht, denken Sie über das Thema Nachfolge nach?

Neumeier: Ständig. Aber ich möchte eigentlich nicht gern darüber sprechen.

Haben Sie da überhaupt ein Mitspracherecht? Andere Intendanten dürfen sich ja auch nicht ihren Nachfolger aussuchen.

Neumeier: Das hatte ich unter der Kultursenatorin Karin von Welck. Wie es jetzt ist, bin ich nicht ganz sicher. So direkt habe ich mit Frau Kisseler nicht darüber gesprochen. Die Rechte an den Werken sind meine. Ich entscheide, ob sie hier bleiben oder nicht.

Mal abgesehen vom Ballett - wann haben Sie eigentlich das letzte Mal so richtig ausgelassen getanzt?

Neumeier: Puh. Das weiß ich gar nicht. So etwas mache ich eigentlich nicht so. Das ist schon sehr lange her.

Welche Musik hören Sie privat? Oder ist das immer mit dem Beruf verwoben?

Neumeier: Eigentlich ist es das. Manchmal romantische Klaviermusik, Schumann, Schubert, Chopin. Immer wieder Bach. Beatles, Simon and Garfunkel.

Lady Gaga?

Neumeier: Ich weiß nicht, ob ich das je gehört habe. Ich finde ja schon die Erscheinung ein bisschen problematisch.