Lauren Oliver setzt ihren Laborversuch in Sachen Liebesverbot fort, den sie mit „Delirium” begonnen hat. Ein Roman mit Stärken und Schwächen.

Eine Welt ohne Liebe? Diese Vorstellung muss selbst dem hartgesottensten Macher absurd erscheinen. Auch wenn wir westlich Zivilisierten unser gesamtes Leben mit einer Effizienz durchorganisiert haben, dass bitte bloß kein Platz zum Durchatmen und zur Begegnung mit dem eigenen Ich bleibt - die große Liebe ist und bleibt das große romantische Erlösungsversprechen unserer Zeit (und, aber das nur nebenbei, der Motor schlechthin der Film- und Literaturindustrie und schon deshalb unverzichtbar).

Die junge Autorin Lauren Oliver hat für ihren Roman "Delirium" gleichsam am Reißbrett ein Amerika entworfen, in dem die Liebe als Krankheit denunziert und bei Strafe verboten ist. Das geht so weit, dass die Menschen sich einem Eingriff unterziehen müssen, der ihnen die hinderlichen Gefühle nimmt. "Heilung" heißt die Prozedur, der die meisten Opfer auch noch willig entgegensehen.

Zweifellos Stoff für einen Roman auf dem Gelände der Dystopie, also eines ins Negative gewendeten Gesellschaftsbildes, das zurzeit in der Jugendliteratur Hochkonjunktur hat. Morgen bekommt Lauren Oliver für den Roman den "Buxtehuder Bullen" verliehen. Und die Geschichte geht weiter; soeben ist der Nachfolgeband "Pandemonium" erschienen.

Die Heldin Lena, das Mädchen, das sich im Ausgangsbuch dem Zugriff der Geheilten entzogen hatte, hat bei ihrer Flucht über den Zaun in die unkontrollierte Wildnis ihren Geliebten Alex verloren. Sie wird halb tot aufgelesen und von einer Gruppe junger Leute hochgepäppelt - nur dass die selbst kaum mehr als das Allernötigste haben. "Invaliden" heißen die Flüchtigen in der Kontrollsprache der "Geheilten", wie überhaupt vieles in "Pandemonium" an Aldous Huxleys Klassiker "Schöne neue Welt" gemahnt.

Die "Invaliden" nun wollen in der Wildnis nicht nur überleben und den Bombardements durch die "Geheilten" entgehen, sondern ihrerseits deren Staat abschaffen. Straff organisiert, haftet auch der Gruppe um die junge Anführerin Raven etwas Paramilitärisches an. Für Rücksichten bleibt keine Zeit, nicht auf Lenas Entkräftung und schon gar nicht auf ihre Trauer um Alex. Bald wird sie eingesetzt, um unter falscher Identität in New York, also im Feindesland, zu leben. Mit welchem Ziel, das erschließt sich ihr erst nach einem nervenzerfetzenden Showdown.

Oliver hat ihren Roman gut gebaut. Sie schneidet zwei Handlungsstränge gegeneinander, nämlich die ersten Wochen nach Lenas Flucht und ihre Zeit in New York. Sie beobachtet genau - ob das die von den Bombardements versehrten Geisterstädte sind oder komplexe Persönlichkeiten wie Julian, der Sohn des ideellen Kopfs der "Geheilten". Selbst noch nicht operiert, ist er doch ein Produkt der Indoktrination. Ausgerechnet zwischen ihm und Lena wird sich unter lebensbedrohlichen Umständen eine Liebesgeschichte entspinnen. Die Befangenheit der beiden, die Vielschichtigkeit einer intimen Annäherung fängt Oliver meisterhaft ein.

Dennoch nimmt das Buch nur langsam Fahrt auf. Es dauert mindestens 150 Seiten, bis sich der Leser an die überladene Sprache gewöhnt hat. Zu ihren Beschreibungen liefert die Autorin die Interpretation häufig gleich dazu, was recht belehrend wirkt. Ob schiefe Bilder oder formelhafte Wiederholungen - geflucht wird grundsätzlich leise, wohl um die Dringlichkeit zu erhöhen -, man hätte dem Buch ein entschiedeneres Lektorat gewünscht. Und auf das Konto der Übersetzerin Katharina Diestelmeier gehen manche Anglizismen und Ungenauigkeiten: Feuchtes Papier etwa verzieht sich im Deutschen nicht, es quillt oder wellt sich.

Es spricht für die Kraft des Buchs, dass es den Leser trotz dieser ärgerlichen Mängel doch noch in seinen Bann zieht. Wahrhaftigkeit, so könnte man diese Stärke etwas pathetisch nennen. Die Hauptfiguren sind Menschen mit Fehlern und Widersprüchen. Und der zentrale Topos ist eins der wichtigsten Themen überhaupt für junge Leser, junge Staatsbürger: Es spielt keine Rolle, im Namen welcher Ideologie man Köpfe abschneidet. Lena muss feststellen, dass diejenigen, denen sie ihr Leben verdankt, im selben Maße ideologisch verbohrt sind wie die "Geheilten". Das ist ein schmerzhafter Erkenntnisprozess, gipfelnd in dem Konflikt zwischen ihrer aufkeimenden Liebe zu Julian und ihrer Loyalität zu den "Invaliden". Wie Oliver diese unauflösbare Seelenlage seziert, das ist die Lektüre schon wert.

Doch auch wenn es einen dritten Band geben wird - muss das Buch unbedingt mit einem Cliffhanger enden?

"Pandemonium", Lauren Oliver, Carlsen, 352 S., 17,90 Euro, ab 14 Jahren