In der neuen Reihe „Auf eine Stunde” vermittelt Jeffrey Tate das Erlebnis Konzert - ein gar nicht schulmeisterlich gegebener Unterricht.

Hamburg. "Auf eine Stunde": Das klingt angenehm überschaubar. Vor allem, weil es in der klassischen Musik unter diesem Zeitmaß eigentlich nie abgeht - ein Musikdrama von Richard Wagner nimmt gern mal das Fünffache in Anspruch, die gute Bruckner- oder Mahler-Sinfonie ist unter 60 Minuten nicht zu haben, und sie kommt im Konzert ja meistens nicht allein.

Die Hamburger Symphoniker probieren in dieser Saison mit "Auf eine Stunde" ein für sie neues Format zwischen Education und Konzerterlebnis. Es soll interessierten Zuhörern die Chance geben, eines der Werke genauer kennenzulernen, die am Abend darauf dann im Rahmen eines regulären Abo-Konzerts aufgeführt werden. Am Sonnabend lud Jeffrey Tate zur Premiere in die Laeiszhalle - auf die Bühne. Die meisten der etwa 100 Zuhörer nahmen hinter dem Orchester Platz und saßen so dem Dirigenten gegenüber. In der ersten halben Stunde ließ der Maestro einer Leidenschaft freien Lauf, die an seinen ursprünglich erlernten Beruf denken ließ, den des Chirurgen. Mit feinem Besteck sezierte er Bartoks "Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta", wobei sich die Empfindung des Musikers immer wieder schön mit dem Geist des analytischen Partiturlesers verband.

In den Close-up genannten öffentlichen Proben, die Tate in der vorvergangenen Saison vor laufenden Kameras für die Internetgemeinde aufzeichnen ließ, wandte er sich vorrangig an seine Musiker. Die Zuschauer konnten interpretatorische Details wahrnehmen und die Interaktion zwischen dem Dirigenten und Orchester studieren. Jetzt sind sie selbst die Adressaten. Für sie begab sich Jeffrey Tate auf eine kommentierte Schnitzeljagd nach dem aus vier Abschnitten bestehenden Fugenthema, das Bartok in seinem ungewöhnlich instrumentierten Werk verarbeitet hat - mal ganz offensichtlich, mal so geheim versteckt, dass der Dirigent mit einigem Behagen konstatierte, er sei vermutlich einer der wenigen, der auch im zweiten Satz ausdauernd genug danach gesucht habe.

Zwischendurch spielten die konzertfein angezogenen Musiker auf Tates höfliches Kommando die signifikanten Passagen aus allen vier im Charakter sehr eigenen Sätzen des Werks. Tate ist Brite und Pädagoge genug, um sich nicht im musikwissenschaftlichen Klein-Klein zu verheddern. "Stellen Sie sich eine Nacht mit unnetten Tieren vor", sagt er etwa als Kommentar zum dritten Satz, bei dem das Schlagzeug mit Glissando-Pauken und wie Skelettgeklapper klingenden Wirbeln auf dem hohen Holz der Marimba an Gruselfilme oder Gespensterbahn denken lässt. Seine Erläuterungen summieren sich zu einer gar nicht schulmeisterlich gegebenen Unterrichtseinheit in Musikgeschichte, Formenlehre, Kontrapunkt und Ästhetik. Vor dem zweiten Teil des musikalischen Stundenglases schickte der Maestro die Zaungäste von der Bühne und ließ sie sich im Saal verteilen. Nun erklang das Werk in seiner Gänze - vor derart übersichtlich gefülltem Auditorium, dass mancher nun kundiger gewordene Hörer sich einsam gefühlt haben dürfte. Nicht nur bei den geisterhaften Passagen.