Der 15. Fall von Simone Thomalla und Martin Wuttke dreht sich um Jugendgewalt. Thomalla verhindert echte Vergewaltigung.

Für einen kurzen Moment gibt es Hoffnung. Noch besteht die Möglichkeit, die drei Jugendlichen könnten abziehen und nichts als ihre Beleidigungen und Bierpfützen in der Straßenbahn zurücklassen. Anne und René könnten nach Hause spazieren, heißen Kakao trinken und fünf Monate später Eltern werden. Aber es kommt anders in diesem "Tatort", der schon in den ersten Minuten deutlich macht, dass es eine Menge Verlierer geben wird. Die Jugendlichen folgen Anne, die sich vor einen schlafenden Obdachlosen gestellt, die Jungs zur Ordnung gepfiffen hat, durch den gut beleuchteten Park, "um die Schlampe aufzumischen". Nach Dutzenden Fußtritten und Keulenschlägen in den Bauch und auf den Kopf ist sie halb tot. Sie verliert das Baby und stirbt wenige Tage später im Krankenhaus an ihren schweren Verletzungen.

Es ist ein trauriger, unversöhnlicher Fall, den der "Tatort" aus Leipzig erzählt. Die Geschichte ist schnörkellos, auf wenige Protagonisten reduziert. Und obwohl die Schuldigen früh feststehen, bleibt der Film von Regisseur Johannes Grieser (Drehbuch: Mario Giordano und Andreas Schlüter) bis zum Ende spannend. Weil er den Zuschauer in die moralische Gefühlsfalle führt, die immer dann zuschnappt, wenn es um Täter geht, die gerade erst der Pubertät entwachsen sind. Wie schuldig kann jemand sein, der Schule schwänzt, seine Tage auf Facebook vertrödelt und bei Mutti lebt? Die von Jonas Nay, Antonio Wannek und Vincent Krüger eindrücklich dargestellten Täter haben Gesichter wie Milchbrötchen. "Das sind keine Jungs, das sind gemeingefährliche Schläger", sagt René, den Stefan Kurt als Mann spielt, der nicht mehr weiß, wofür er morgens das Bett verlassen soll, der wie besessen auf Rache sinnt. Die Tragik des Films (und des wirklichen Lebens) besteht darin, dass sie eben beides sind, Jungs und gefährliche Schläger.

"Todesschütze" ist der 15. gemeinsame Fall des Leipziger Duos Martin Wuttke und Simone Thomalla. Ein Fall wie gemacht für den vielfach ausgezeichneten Theatermann Wuttke, der als Kommissar Keppler mit Reibeisenstimme und Lebensmüdigkeit im Blick ziemlich fassungslos auf die Gegenwart schaut. "Es ist alles so sinnlos", sagt er, und wer wollte ihm ernsthaft widersprechen. Um ihn herum nur verbohrtes Schweigen, angstzersetzte Gestalten und eine Brutalität, der man schutzlos ausgeliefert ist. Die schlimmsten Bilder erspart Regisseur Grieser dem Publikum, aber es fällt nicht schwer, die Bilder im Kopf zu ergänzen, die etwa die Tragödie um Dominik Brunner in den Köpfen verankert hat. Woher kommt diese Gewaltbereitschaft, fragt der Film, ohne sich an erklärerischen Antworten zu versuchen. Was er zeigt, ist das Zuhause eines Täters, so lauschig wie der Kundenparkplatz einer Neubau-Sparkasse, und Menschen, die mit dem Rücken zur Wand stehen.

Wo die "Tatort"-Reihe sich derzeit eher aufmacht, die Grenzen des Genres auszutesten, mit Gaststars zu experimentieren und öfter mal eine Slapstick-Heiterkeit einzustreuen, setzt "Todesschütze" bewusst aufs Gegenteil. Dies ist ein Film von der Straße. Karg, trostlos, schmutzig und von bedrückender Aktualität. Ein Film als Spiegel unserer Zeit, der vorführt, welche Schrecklichkeiten direkt vor der eigenen Haustür passieren, und wie wenig getan wird, dies zu verhindern. Simone Thomalla sagte jetzt in einem Interview, sie habe vor einiger Zeit eine Vergewaltigung in einem Zugabteil verhindert.

"Zivilcourage" hieß zuletzt ein Film mit Götz George, der von Gewaltexzessen nicht im Stil des Whodunit-Krimis erzählte, aber zu demselben traurigen Ergebnis kam: Wer sich einmischt, wird es womöglich bitterlich bereuen. Und wer den Mund nicht aufmacht, vermutlich auch.

Für Unbequemlichkeiten sorgen auch die internen Hierarchie-Rangeleien im Leipziger Polizeiapparat. Philipp Rahn (Wotan Wilke Möhring), Streifenpolizist alter Schule, ist mit seinem Kollegen der Erste am Tatort, an dem das Paar aus der Straßenbahn niedergeprügelt wurde. Leider hat er nichts gesehen, zu dunkel die Nacht, zu fix die Täter. Dass sein Sohn einer der Schläger gewesen sein soll, davon will Rahn nichts wissen. "Sie kriegen wohl immer alle, was?", blökt er Keppler an, und der sagt: "Ja." Den Rest sagt er mit Blicken. Hier geht es aber um mehr als um den alten Kampf Mordkommission gegen Streife, Kopf gegen Bauch, Straße gegen Schreibtisch. Es geht um einen Vater, der seinen des Totschlags verdächtigen Sohn schützt und sich damit immer tiefer in den Dreck reitet. Rahns Kollege und Partner Peter Maurer, Typ Brummbär mit hoher Leidensfähigkeit, will seinen Schuldgefühlen endlich Luft machen und die Wahrheit über die Nacht im Park erzählen. Bevor er dazu kommt, wird er vor seinem Dienstwagen erschossen.

"Todesschütze" ist ein Film wie der Trip in einen dunklen Schlund, in dem man nicht gern hineinsieht, es aber trotzdem fasziniert tut. Man schaut ihn mit der Wut von Eva Saalfeld und der müden Verzweiflung von Keppler, der immer leiser wird, je lauter dieser Fall sich entwickelt. Der Film macht alles richtig, und ist doch seltsam unbefriedigend. Aber er hakt sich im Gedächtnis fest. Vor allem jene Bilder, die zeigen, wie eine harmlose Pöbelei sich in einen Albtraum verwandelt.

"Tatort: Todesschütze", Sonntag, 20.15 Uhr, ARD