Beim Radar-Festival feiern heute Buch und Film “Wir werden immer weiter gehen“ über die Musikszenen in Hamburg und Berlin Premiere.

3001-Kino. "Wir haben das einfach gemacht. Ohne große Kenntnisse darüber, wie man so was betreibt", erzählt Alfred Hilsberg, wandelndes Musiklexikon und Betreiber des kleinen Labels What's So Funny About. Sein halblanges Haar ist ergraut, doch ihn umweht immer noch die Energie des Eigenwilligen. Dieselbe Energie, mit der er vor mehr als 30 Jahren anfing, Platten zu veröffentlichen. Nach dem Do-it-yourself-Prinzip. Weil die Musik gut und relevant war, weil sie unter die Leute sollte. Nach wie vor ist da dieser Wunsch spürbar, sich des Lebens und der Kunst zu bemächtigen. Auch wenn es mitunter gerade mal reicht, um den Kühlschrank zu füllen.

Der Film "Wir werden immer weiter gehen" sowie ein gleichnamiges Buch, die heute beim Radar-Filmfestival Hamburg-Premiere feiern, porträtieren Überzeugungstäter wie Hilsberg. In einer Spanne von zehn Jahren haben der Hamburger Kameramann Ingolf Rech sowie der Berliner Journalist und Regisseur George Lindt die Musikszenen ihrer Heimatstädte begleitet. Mit viel Liebe zum Detail betrachten sie dabei das (sub-)kulturelle Wirken zwischen ökonomischen Zwängen und inhaltlichen Zielen, zwischen dem Wandel der Metropolen und der persönlichen Entwicklung der Akteure.

Die filmische Umsetzung inszenieren Rech und Lindt als "musikalisches Kaleidoskop". Und ihre Collage aus Interviews, Konzertmitschnitten, Straßenszenen im Zeitraffer und Polaroids verleiht ihrer Dokumentation einen ganz eigenen, leicht räudigen Look, der Lebensgefühl und Pulsschlag der Szenen auch auf ästhetischer Ebene einfängt. Inhaltlich überzeugt vor allem der weite Rahmen, den die zwei ihrem Projekt gegeben haben. Sie stellen nicht nur das fertige Musikprodukt dar, sondern reflektieren auch die Bedingungen, unter denen Kunst entsteht und verbreitet wird. Sie besuchen etwa ein CD-Presswerk oder den Musikvertrieb Indigo und den Instrumentenladen Rückkopplung, die beide in Hamburg beheimatet sind.

Herzstück ihrer Recherchen bleiben jedoch die Aussagen der zahlreichen Zeitzeugen. Zum Beispiel von dem Trash-Pop-Duo Stereo Total, der Singer-Songwriterin und Autorin Christiane Rösinger sowie von Tocotronics Dirk von Lowtzow. Oder auch von Uli Rehberg, der in der Hansestadt den Plattenladen Unterm Durchschnitt betrieb.

"Eine Verwahranstalt, eine Kuddelausschankstelle, eine Bahnhofsmission", charakterisiert Rehberg sein Refugium. Rech und Lindt machen zahlreiche Orte wie diesen in ihrem Film erlebbar. Orte, die jenseits des Mainstreams Zuflucht bieten und so oftmals zu kreativen und kritischen Keimzellen werden. Orte wie der Technoklub Tresor, vor allem in den 90er-Jahren. "Berlin war damals ein Sammelbecken für Leute, die Probleme in der Provinz hatten", erzählt Betreiber Dimitri Hegemann.

Wenn die Protagonisten zehn Jahre später noch einmal vor die Kamera treten und Rückschau halten, steht die Frage übergroß im Raum, wie es sich im alternativen Kontext altern lässt. "Der Musikmarkt ist implodiert, das Buchschreiben funktioniert noch", bilanziert etwa Rocko Schamoni, der ins literarische Fach wechselte. Sein Weggefährte Schorsch Kamerun macht zwar mit seiner Band Die Goldenen Zitronen weiterhin Musik, hat sich aber auf die Arbeit am Theater fokussiert. Viele sind der Kultur und ihrer Haltung treu geblieben, haben ihr Schaffensspektrum jedoch erweitert. Die Mitglieder des Rockquintetts Kante thematisieren zudem, dass zu der erweiterten Bandfamilie mittlerweile neun Kinder gehören.

"Über Pop, der in die Jahre kommt", macht sich in dem Buch "Wir werden immer weiter gehen" auch Journalist Klaus Walter Gedanken. Seinem Essay ist ein Zitat des Malers und Musikers Jim Avignon vorangestellt: "Ich bin jetzt gut 35. Ich habe immer noch dieselben Hobbys wie mit 20 und frage mich, wie lange soll das noch so weitergehen." Das fast 200 Seiten starke Kompendium, an dem Autoren wie Till Briegleb und Fotografen wie Dorle Bahlburg mitgewirkt haben, bietet inspirierenden und lehrreichen Stoff, um tiefer in Geschichte und Gedankenwelt der jeweiligen Szenen einzusteigen. Und ein Grundgefühl, das Nikel Pallat von Indigo schildert, bleibt vermutlich für alle gleich: "Wenn wir keine gute Musik mehr finden, dann haben wir keine Existenzberechtigung mehr."

"Wir werden immer weiter gehen" Präsentation von Buch und Film heute, 20.00, 3001 (S Sternschanze), Schanzenstr. 75; www.radarhamburg.com