Seymour Stein ist Talentfinder und Starmacher. Er führte die Ramones und Talking Heads zum Erfolg. Jetzt sucht er auf dem Reeperbahn-Festival.

Hamburg. Der Mann ist das, was man im schnelllebigen Pop-Business eine Legende nennt. Nach dem Gespräch in der Bar des Hyatt-Hotels muss Seymour Stein direkt weiter zum Treffen mit anderen A&R-Managern auf dem Reeperbahn-Festival. Er selbst ist unter diesen Plattenfirmenmenschen, die für "Artists and Repertoire", also die künstlerische Seite eines Musikunternehmens zuständig sind, der Größte. Seymour Stein, 70, entdeckte einst, unter vielen anderen, die Ramones und Madonna. Er ist das beste Beispiel für den Mythos, der die Talentsucher umgibt. Und er weiß, dass alle mit ihm immer nur über Madonna sprechen wollen. "Dabei ist das Beste, was zuletzt über mich gesagt wurde: Seymour Stein ist immer ein Mann des Indie-Pop gewesen", sagt der New Yorker, der einst das Plattenlabel Sire Records gründete. Die schottische Band Belle & Sebastian widmete dem Manager einst einen Song. Jetzt sitzt er vor uns: Ein freundlicher Herr, der beinah sein ganzes Leben dem Rock 'n' Roll gewidmet hat und mit ihm alt geworden ist.

Hamburger Abendblatt: Welche Fähigkeiten braucht man, um ein perfekter A&R-Manager und Künstler-Entdecker zu werden?

Seymour Stein: Welches Wort haben Sie gerade benutzt? Fähigkeiten?

Fähigkeiten.

Stein: Du brauchst überhaupt keine Fähigkeiten! Du musst Musik lieben. Jeder geht da anders heran. Für mich war das Wichtigste in der Musik immer: Songs! Songs! Songs! Wenn ich einen Künstler höre, der mir gefällt, versuche ich, ihn sofort unter Vertrag zu nehmen.

Wie war das zum Beispiel mit der Punkrock-Band The Ramones, die Sie entdeckt haben?

Stein: Ich wollte mir die Band in einem New Yorker Klub ansehen, doch konnte selbst wegen einer Lungenentzündung nicht hingehen. Also schickte ich meine Frau. Die kam zurück und war begeistert. Dann habe ich für den nächsten Tag ein Studio gebucht. In 50 Minuten haben sie 18 Songs aufgenommen, und ich habe sie direkt dort für mein Label Sire Records verpflichtet. Den Ramones verdanke ich übrigens die Entdeckung der Talking Heads.

Wie das?

Stein: Die Talking Heads spielten unangekündigt im CBGB als Vorband der Ramones. Ich war so begeistert, dass ich auf die Bühne gesprungen bin und ihnen einen Vertrag unter die Nase gehalten habe. Doch die Bassistin Tina Weymouth sagte: Wir müssen noch eine Zugabe spielen. Komm doch morgen in unser Loft. Letztlich hat es dann elf weitere Monate gedauert, bis ich den Vertrag unter Dach und Fach hatte. Aber das war die Ausnahme.

Das CBGB war Mitte der 70er-Jahre der angesagte Klub in New York. Wie oft sind Sie da hingegangen?

Stein: Ich habe da öfter übernachtet als bei mir zu Hause, weil ich mit dem Besitzer Hilly Kristal eng befreundet war. Meine Tochter Mandy hat übrigens einen Dokumentarfilm über ihn und das CBGB gedreht, er heißt "Burning Down The House".

Sie haben auch viele britische Bands unter Vertrag genommen wie die Smiths.

Stein: Schnelligkeit war immer wichtig. In England habe ich Echo & The Bunnymen, Depeche Mode und die Pretenders an dem Abend verpflichtet, als ich sie das erste Mal gehört habe. England wurde eine zweite Heimat für mich. Ich liebe das Land.

Viele der Bands aus Großbritannien gehörten zur Indie-Szene. In den USA haben Sie diese Bands zum Major-Label Warner gebracht ...

Stein: (unterbricht) Warner ist kein Major-Label. Reprise, Elektra und Atlantic sind drei große Indie-Labels unter diesem einen Dach. Ich selber habe mich immer als ein Vertreter unabhängiger Musik gefühlt. Bis heute. Die großen Indie-Labels-Chefs wie Daniel Miller von Mute, Geoff Travis von Rough Trade, Alan McGhee von Creation und Martin Mills von der Beggars Group sind allesamt enge Freunde und Partner.

Ihre größte Entdeckung war Madonna. Was war so aufregend an ihr? Und: Wie fanden Sie die überhaupt?

Stein: Ich erzähle Ihnen, wie das passierte. Ich war in einem Klub in New York, und der DJ, er hieß Mark Kamins, sagte mir, dass er unbedingt eine Platte produzieren wolle. Ich sagte: Hier hast du 18 000 Dollar, bring mir sechs Demos an. Das tat er. Nur eines interessierte mich. Ich hörte den Song "Everybody" von Madonna immer wieder auf dem Walkman, der gerade erfunden worden war. Ich lag wegen Herzproblemen im Krankenhaus, im Lenox Hill Hospital in New York, und dann hieß es plötzlich: Madonna möchte dich jetzt kennenlernen. Ich war unrasiert, trug Scheißklamotten. Ich wollte nicht, dass sie denkt: Der stirbt gleich. Also ließ ich mir einen neuen Pyjama bringen und bestellte den Friseur. Madonna hätte aber gar nichts dagegen gehabt, wenn ich schon im Sarg gelegen hätte: Hauptsache, wir können noch den Vertrag unterschreiben. Sie wollte das Treffen noch mehr als ich. (Stein grummelt, greift nach den Unterlagen der Fragesteller.) Was haben Sie denn noch für Fragen? Bestimmt wollen Sie gleich wissen, ob ich von Anfang an wusste, dass sie ein Superstar werden wird.

Ehrlich gesagt schon.

Stein: Das ist die dümmste Frage! Woher sollte ich das wissen? Madonna war immer eine harte Arbeiterin. Sie hatte Talent, und sie wollte alles, was sie erreicht hat, so sehr. Wir hörten nach vier oder fünf Alben auf, miteinander zu arbeiten. Da wusste ich aber: Ein Ende ihrer Karriere ist nicht in Sicht. Sie ist eine Musiksammlerin. Wie David Byrne oder Brian Wilson, dessen erstes Soloalbum ich auf Sire Records gemacht habe. Dass ich Madonna entdeckt habe, veränderte mein Leben nicht. Dass sie bei mir unterschrieb, das änderte mein Leben. Sie ist nicht die, die es einmal im Leben gibt, sie ist die eine.

Einen Superstar wie sie wird es wohl nicht mehr geben.

Stein: Madonna hat im Laufe ihrer Karriere so viele weibliche Künstlerinnen in den Schatten gestellt. Wir haben uns nie gestritten, kein einziges Mal.

Manche sagen, dass Madonna sich jetzt, mit 54, zur Idiotin macht, wenn sie immer noch wie ein 20-jähriges Discomädchen über die Bühne hopst.

Stein: Ich will darauf nicht antworten. Sie hat sich nie zum Idioten gemacht. Nie! Waren Marlene Dietrich und Edith Piaf etwa nicht alt? (singt) Je ne regrette rien ... In der Schauspielerei ist es dasselbe: Ich mag Judie Dench zwar nicht, aber sie ist doch eine großartige Schauspielerin, oder? Auch Meryl Streep ist nicht mehr die Jüngste, aber sehr gut in dem, was sie tut.

Als Madonna zum Star wurde, befand sich Pop in einem Goldenen Zeitalter. Nie vorher und natürlich nie danach verdiente die Branche so viel Geld ...

Stein: Es ist nicht mehr dasselbe heute. Ich bin nicht mehr derselbe, Sie auch nicht. Übrigens bin ich ein bisschen beleidigt. Wir reden zu viel über Madonna und zu wenig über meine Plattenfirma. Immerhin habe ich auch Seal, k.d. lang und Ice-T auf Sire groß gemacht.

Wo finden Sie heute neue vielversprechende Künstler?

Stein: Wenn möglich, sehe ich die mir auf der Bühne an. Aber ich benutze auch das Internet und YouTube. Mit meinen A&R-Leuten treffe ich mich mehrmals in der Woche, und wir hören uns gemeinsam neue Sachen an. Das Internet hat der Musikindustrie in Hinblick auf die Verkaufszahlen und den permanenten Diebstahl sehr geschadet, aber es hat auch dafür gesorgt, dass viel mehr Musik zur Verfügung steht.

Sie sind direkt aus Asien nach Hamburg gekommen. Haben Sie dort nach neuen Talenten gesucht?

Stein: (unterbricht wieder) Das war ein Geschäftstrip für eine Organisation von Indie-Labels. Aber es gibt gerade in Indien und Korea viele kleine Hitfabriken, wie das früher Motown oder Stax waren. Vieles funktioniert nur in Asien, aber ganz viele Songs könnten weltweit erfolgreich sein. Die Welt wird kleiner und kleiner ... Übrigens war ein deutscher Song einer meinen ersten Lieblingssongs. (singt) Seemann, deine Heimat ist das Meer, deine Freund sind die Sterne ... Kennen Sie das?

Ja, das stand bei den Eltern im Schrank. Die Sängerin hieß Lolita.

Stein: (lacht) Genau. (singt) Ein Schiff wird kommen, und das bringt mir den einen, den ich so lieb wie keinen ... Musik kennt keine Grenzen. Früher spielte deutsche Musik in Amerika eine größere Rolle. Bert Kaempfert, der Hamburger! Auch italienische und französische Musik gab es mehr zu hören. Dass alles unbedingt auf Englisch gesungen werden muss: Das kam mit den Beatles. Schade eigentlich. Natürlich sind Amerika und England wichtige Pop-Länder, sie sollten aber nicht so dominant sein, wie sie es seit Jahrzehnten sind. Es gab auch in Deutschland immer schon tolle Labels, Hansa Records in Berlin beispielsweise.

Wie sehen Sie die Zukunft der Popmusik?

Stein: Die Indie-Labels sind wichtig - weltweit. Sie entdecken große Künstler. Funk, Gospel, Country, Punkrock, Dance: Das ist alles durch kleine Labels groß geworden. Die Indie-Labels sind die Infanterie des Pop.

Hält Pop Sie jung?

Stein: Sehe ich so aus? (lacht) Bitte keine Komplimente. Aber klar: Im Kopf hält Pop einen jung und verrückt.

Gehen Sie aufs Reeperbahn-Festival?

Stein: Natürlich. Jeden Abend. Können Sie mir Bands empfehlen, die noch ungesignt sind, die noch keinen Vertrag haben?

Es gibt ein paar sehr interessante Bands aus Israel, die im Kaiserkeller spielen.

Stein: Ja, Tel Aviv scheint ein richtiger Hot Spot zu sein.

Gibt es aktuelle deutsche Bands, die Sie interessant finden?

Stein: Ja, wie heißen diese beiden tätowierten Typen? Haudegen. Die finde ich toll. Die Sprache ist egal, das könnte man auch in Amerika rausbringen. Deutschland war immer wichtig. Nicht nur wegen der Beatles oder Gerry & The Pacemakers. Hamburg hat diesen Bands Exil gegeben, als sich in England keiner für sie interessierte, und eine enorm wichtige Rolle für die Popmusik gespielt. Hamburg ist die erste deutsche Stadt, die ich besucht habe, und sie ist wirklich absolut meine deutsche Lieblingsstadt, einfach weil sie so unglaublich schön ist.

Danke.

Stein: Berlin fühlte sich früher immer klaustrophobisch an, vor der Wende, zum Glück ist das vorbei. In München liebe ich zum Beispiel das Restaurant Käfer, aber Hamburg ist so unglaublich mit den Kanälen und den schönen Villen am Wasser und den vielen guten Fischrestaurants.

Was raten Sie jungen A&R-Managern?

Stein: Das, was man jedem jungen Menschen raten sollte: Habt Mut und eigene Überzeugungen. Lasst euch von niemandem reinreden bei dem, was ihr tut! Wie viele Leute damals, in den 70ern, zu mir gesagt haben, die Ramones seien doch Müll, lass das sein ... Ich sagte zu denen, und das dürfen Sie zitieren: Fuck yourself!