Zwei Jahre nach dem Ende von Blumfeld stellt Jochen Distelmeyer sein Solo-Album “Heavy“ auf Kampnagel vor.

Hamburg. Irgendwann ist auch mal gut mit Aufregen. In der Altersklasse Ü40 hat man nicht nur das Gesicht, das man verdient, sondern auch verdient, nur noch zu tun, was einem wichtig ist. Jochen Distelmeyer, knapp über 40, sieht das offenbar auch so. Entweder sind die Zeiten endgültig vorbei, in denen er Spaß daran hatte, Journalisten mit messianischem Sendungsbewusstsein an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu belehren, oder der Mann ist chronisch entspannt und zufrieden. Bevor es losgeht, hat Distelmeyer aber erst mal "tierischen Rauchbock" und entschuldigt sich vor die Tür.

Also abwarten und rückblenden.

Vor gut zwei Jahren endete mit einem tränenfeuchten Fabrik-Konzert eine Ära deutscher Musik mit nicht blöden Texten. Blumfeld war vorbei. Eine wichtige Band hatte beschlossen, nicht mehr mit seitengescheiteltem Dagegensein als Gesinnungskompass für andere da zu sein. 16 Jahre Wegweisung waren genug. Die ohnehin in die Wechseljahre gekommene Hamburger Schule verlor mit Distelmeyer den letzten großen Klassensprecher. Irgendwann muss ja auch mal gut sein mit Vordenken.

Reue über das Aus gab es seitdem bei ihm nicht. "Dazu war meine Motivation, die Band aufzulösen, viel zu stark. Ein Werk ist zum Abschluss gebracht worden. Das hat mich eher beruhigt." Die letzten drei Platten seien eine unbewusste Trilogie gewesen, "ich war am Endpunkt meines Hinterfragens angelangt. Der nächste Schritt musste sein, mich ins Offene zu stellen."

Vor einigen Wochen drehte Distelmeyer erste Testrunden im Offenen, vor allem in kleineren Klubs, mit dem Material seines ersten Solo-Albums. Es geht also wieder los. Andererseits: Es war kaum so ganz vorbei. Mehr als etwa ein halbes Jahr Ruhe, um "den Songwriter-Muskel ein bisschen zu entspannen", gab es letztlich nicht, "relativ zeitnah zur Auflösung der Band hatte ich ein paar Stücke". Während der Nachlass-Arbeit an einer Best-of-Blumfeld-CD-Box und einer Live-DVD stellte sich in der gewohnten Studio-Atmosphäre das Jucken in den Fingern wieder ein. Am Ende dieses Juckens war eine unaufgeregt gute, sehr elegant produzierte Platte da, die mit ihren zehn Songs nichts anderes sein will als genau das. Wer mag, kann das Erwachsenen-Pop nennen, was hier - bis auf das wuchtig von oben herabkrachende "Wohin mit dem Hass?" - klar und souverän, leicht, aber nicht seicht daherkommt. Geschmeidiger Autoren-Pop wäre wohl auch nicht verkehrt. Auf dem Cover ist Distelmeyer anspielungsreich mit einer großen rosaroten Kaugummi-Blase zu sehen. Alle wichtigen Themen sind drin: Liebe, Hass, Freude, Freunde, Scheitern und Zweifeln. Kein Wunder, dass die Platte "Heavy" heißt. Kein Wunder aber auch, dass man das auch ganz anders verstehen kann. "In ,Heavy' klingt auch ,Himmel' mit an. Doch das ist nicht mein Job, diese Assoziationen."

Themenwechsel. Hamburg an sich und überhaupt. Jan Delay hat sich gerade erst hymnisch über seine Heimatstadt geäußert, Distelmeyer - andere Generation, ähnliche Vorbildfunktion - ist da, wie sein Kumpel Daniel Richter, deutlich weniger euphorisch: "Ich sehe mich nicht als Hamburger Musiker, schon lange nicht mehr. Ich lebe hier, weil meine Freunde und meine Familie hier sind, aber besonderen Bezug zu Hamburg als Kulturstandort hab ich schon sehr lange nicht. Ich finde es eher verdächtig, wie aufgrund von irgendwelchen McKinsey-Untersuchungen der Kulturstandort so herausgestellt wird, um diese Stadt, die sich hier und da wie ein schlechter Puff geriert, so attraktiv nach außen zu machen. Gleichzeitig wird aber kein Freiraum gelassen für Experimente. Das ist mir zu bigott. Unter die Hamburger Künstler möchte ich mich nicht einreihen lassen, dafür finde ich die Kulturpolitik dieser Stadt zu provinziell."

Man hätte nicht zuletzt wegen dieser Leidenschaft für klare Ansagen erwarten können, dass Distelmeyer auf "Heavy" in guter alter Blumfeld-Manier gesellschaftskritisch und besserwissend hinlangt. Die Zeiten sind schließlich so hart wie lange nicht. Stattdessen legen sich zartbittere, pop-polierte Balladen über Bleiben oder Gehen und über Kinder auf dem Spielplatz aufs Gemüt. Da ist Distelmeyer mit sich im Reinen. "Was wirtschaftliche und politische Entwicklungen angeht - diese Songs hab ich schon geschrieben, die werden jetzt erst so langsam eingeholt. Warum sollte ich mich wiederholen?" Also gibt es Stil-Übungen, von denen die meisten ohne größere ideologische Verrenkungen zur besten Sendezeit in rundgelutschten Formatradio-Programmen laufen könnten. Auch das macht Jochen nichts. "Mainstream? Kein Problem. Ich glaub, John Lennon hat gesagt, ihm ist egal, in welchen Postkasten er seine Briefe steckt. Wichtig ist, dass alle meine Notwendigkeit nachvollziehen können, diese Platte zu machen."

Ein Zeile wie "Lass uns Liebe sein", Titel der ersten Single, könnte im Idealfall von Udo Jürgens stammen, schlimmstenfalls aber auch von Howard Carpendale. "Glaub ich nicht. Und selbst wenn, ich glaub schon, dass ich das anders mache." Dann reden wir noch darüber, dass er sich nicht als Romantiker sieht, dass es ihm den Atem verschlägt, wenn Nina Simone "Strange Fruit" singt, und darüber, wie es ist, von einer Klubtournee als gefeierter Star nach Hause zu kommen, und der Kühlschrank ist leer. "Dann muss man eben losgehen und einkaufen. That's life." Einige Minuten davor meinte er: "Ich hab nicht das Gefühl, ich stell mich irgendwohin, um was zu sagen. Ich mach das, weil ich das bin. Weil es mein Leben, meine Musik, meine Wünsche sind."

Konzert : 30.8., Kampnagel. "Heavy" erscheint am 25.9., "Lass uns Liebe sein" am 11.9. Das Video zu "Wohin mit dem Hass?" ist auf www.jochendistelmeyer.de zu sehen.