Verse zur Midlife-Crisis und Abschied von der Postmoderne: Der Ex-Blumfeld-Sänger zelebriert seine musikalische Wiedergeburt.

Hannover. Ein scharfkantig aufjaulendes Gitarrenriff zur Begrüßung, ein ernster Blick unter dem Markenzeichen-Seitenscheitel. "Wohin mit dem Hass, den ich in mir spür, frisst sich wie Rost nach innen." Hoppala. Harter Tobak, Herr Distelmeyer. Die Kollegen von Tocotronic hatten 2007 noch verschmitzt die Kapitulation vorm System vorgeschlagen, und da war die globalgroße, bitterböse Krise noch gar nicht für alle sichtbar. Hier und jetzt geht der Vierminutenkampf gegen die brutal verschärften Um- und Zustände weiter. Zumindest, um im leicht grau melierten Jargon zu bleiben, ein Stück weit.

Der ewige Jochen, der "Godfather of Hamburger Diskurspop", ist wieder da, macht zur Begrüßung sehr gekonnt auf böser Schlaumeier-Bube ("Manchmal denke ich, ich sollte mir eine Knarre kaufen und durch die Innenstädte Amok laufen, einfach so"), und fast ist es, als wäre er nie weg gewesen. Zwei Jahre nach dem finalen Blumfeld-Konzert in der Fabrik, das nicht wenige mit Tränen der Rührung und des Abschieds von einem bewusstseinsprägenden Lebensgefühlsabschnitt verließen, steht der Fourtysomething mit dem sardonischen Lächeln und der Oberseminar-Denke als Reinkarnation des Hamburger-Schule-Klassensprechers wieder auf einer Bühne. Später in einem anderen Text heißt es dann, wahrscheinlich nicht ironiefrei: "Das war's dann wohl mit der Postmoderne, die guten alten Zeiten sind vorbei - ich will noch mehr."

Die neue, bislang schwer geheim gehaltene Platte ist fertig, die Begleit-Band hat gute Laune, zur Resozialisierung des Frontmanns ins Öffentliche stehen einige demonstrativ kleine Auswärts-Testspiele in der Regionalliga an.

Wir sind in Hannover, im Club Glocksee. Eine Hinterhof-Mischung aus Kampnagel und Rote Flora, schwer alternativ, sehr düster, sehr heiß, gemütlich verranzt. Ein Startblock. Das neue Album heißt hintergedanklich motiviert "Heavy". Aller Neuanfang ist bekanntlich schwer, kommt hier aber ganz leicht und mit großer Selbstverständlichkeit rüber.

"Jochiboy" solo - und doch auch ein starker Hauch von Déjà-vu und Fortsetzungsroman. Denn Ex-BlumfeldBassist Lars Precht hämmert den Rhythmus raus, ebenfalls mit in der neuen Distelmeyer-Combo ist Jeans- Team-Gitarrist Henning Watkinson, der schon in der alten Besetzung mitwirkte. Niemals geht man ganz.

Das geschmeidige Songwriting jenseits der rumpelnden Indie-Gitarre hat Distelmeyer aber Gott sei Dank nicht verlernt, vieles klingt genau so, wie sich Blumfeld-Fans das wünschen dürften, die dem überharmlosen Album "Verbotene Früchte" auch bei sehr gutem Willen nicht viel abgewinnen konnten.

"Leicht religiös und schwer Suhrkamp" hat die "taz" gerade ihren Schlussstrich unter diese Ära formuliert.

Doch Eleganz statt Relevanz ist mittlerweile erlaubt. "Bleiben oder gehen, ist es das wert, was soll ich machen?" Die Midlife-Crisis ist da, will betextet sein. Auch Kettcar hatte jüngst in der bittersüßen Bausparer-Ballade "Am Tisch" dieses Gefühl auf den Punkt gebracht, sich im Hamsterrad der Notwendigkeiten gefangen zu sehen. Herzschmerz mit Abitur kann Distelmeyer aber ebenfalls - "Lass uns Liebe sein" und "Nur mit Dir" privatisieren auf hohem Niveau und sind geschmackssicher, womöglich sogar formatradiotauglich. Als Zugabe gibt es eine Meditation über Nachwuchsbeobachtung auf dem Kinderspielplatz. "Am Ende ist es nur ein Song, ich bin am Ziel." Gettowelt war gestern. Es gibt intelligentes, lebenswertes Leben auch jenseits der 40.

Hamburg-Konzert: 30.8. Kampnagel. "Heavy" erscheint am 25.9., die Single "Wohin mit dem Hass?" ist auf www.jochendistelmeyer.de zu hören.