Lässigkeit als Lehransatz: Wie Professor Anselm Reyle sich mit 750 Studierenden aus 39 Klassen auf die Jahresausstellung der HFBK vorbereitet.

Hamburg. Auf dem Flur stapeln sich Farbpaletten und Leinwände, daneben traurige leere Sektflaschen. Studenten schieben großformatige Holzbauten durch den Gang. Reges Treiben herrscht in der Hochschule für bildende Künste. Heute Abend muss die Jahresausstellung stehen. 750 Studierende aus 39 Klassen vom Erstsemester bis zum Master-Absolventen werkeln, pinseln und installieren bis zur letzten Minute, um aktuelle Arbeiten aus Malerei, Bildhauerei und Fotografie, Design, Film oder Grafik zu präsentieren.

Anselm Reyle ist kaum von seinen Studenten zu unterscheiden. Mit natürlicher Lässigkeit, in Jeans und Sneakers und mit Rockerbärtchen, schaut der 42 Jahre alte Professor nach den 25 Studierenden seiner Klasse. Gerade hat er in Taipeh eine Ausstellung eröffnet, scherzt, ist bester Laune und dabei fast erschreckend umgänglich. Reyle ist einer, der es geschafft hat. Bekannt für seine Streifenbilder, Chrome-Optiken und Multimedia-Installationen mit gefundenen Materialien, avancierte er zum Liebling der internationalen Kunstszene. Seine Arbeiten hängen in der Londoner Tate Modern oder sind in der New Yorker Gagosian Gallery neben jenen von Damien Hirst zu finden.

+++ Kunst-Gärtner +++

Den Erfolg ihres Professors würden die Studierenden gerne teilen. Sicher ist auch, die wenigsten werden ihn je erreichen. "Die Frage, ob das Kunststudium das Richtige ist, stelle ich sehr früh", sagt Reyle. "Ich möchte den Leuten kein Gefühl von Sicherheit vermitteln, die es eigentlich nicht gibt." Prüfend gleitet sein Blick über eine raumgreifende Holzinstallation von Lukasz Furs. Genagelte Holzbretter schlängeln sich an der Wand bis zu den Oberlichtern empor. Was wie angeschwemmtes Treibholz wirkt, folgt einem Ordnungsprinzip. "Idee und Materialauswahl sind relativ minimal, aber dennoch steckt da großer Aufwand drin", sagt Anselm Reyle zufrieden. "Das hat etwas Zerstörerisches, entwickelt jedoch einen sakralen Charakter." Bei Lukasz hatte er Vertrauen, bei anderen Studenten greife er stärker in den Prozess ein.

Vorgaben stellt er keine. "Ich begegne meinen Studenten eher auf kollegialer Ebene. Diskutiere mit ihnen, welche Arbeitsweise sie sich vorstellen können. Dann geht es darum, wie man das formal weiterentwickeln kann." Grundsätzlich versucht er niemanden in eine Richtung zu drängen. Er selbst ist der beste Beleg dafür, dass die besondere Freiheit des Kunststudiums hierzulande den außerordentlichen internationalen Erfolg deutscher Künstler von Beuys, Lüpertz bis zu Richter befördert. "Ich stelle keine Aufgaben. Das lenkt nur davon ab, herauszufinden, was man eigentlich möchte. Dafür ist die Zeit zu kurz." Wenn ein Student allerdings nicht zu Besprechungen erscheint, forscht er nach. "Manchmal kommt jemand auf anderem Weg zu sich selbst. Das kann das Arbeiten ausschließen", sagt er. "Wenn jemand ein halbes Jahr meditieren geht oder die Alpen durchquert, kann das okay sein. Ich muss nur verstehen, ob er vor sich selbst wegläuft oder sich selbst sucht." Diese liberale Haltung danken ihm die Studenten. Sebastian Kubersky hat eine Lichtinstallation durch alle Räume gezogen und in einem Papierkorb versenkt. Reyle steht rätselnd davor. "Die Idee mit dem Papierkorb finde ich eigentlich gut. Das kann platt oder kalauerartig wirken, man sieht das aber erst am Schluss." Im Nachbarraum haben Anik Lazar und Lennart Münchenhagen einen Kubus mit dem Titel "Hard Art Club" aufgebaut. Die im Innern schallisolierten Wände werden mit Technomusik beschallt. Der Versuch, eine Veranstaltung in einen Kunstkontext in Form eines Readymades zu übertragen. Heavy-Metal-Fan Reyle grinst vieldeutig, das Werk kommt an.

Vor anderen Arbeiten verharrt er äußerlich regungslos. Mitunter kräuselt sich seine Stirn. Andreas Wendt hat lange minimalistisch gemalt. Und plötzlich in jeder Arbeit einen Besen angebracht. Diesmal hat er ihn über einem Werbeaufsteller an die Wand genagelt. Das könnte man als glasklare Provokation lesen. Nicht so Reyle. "Er hat lange nichts gezeigt, aber liest viel und hat als Person eine Aura entwickelt", sagt er. "Man muss nicht Hunderte von Bildern malen, es geht um eine Konzentration. Wenn sich jemand der Produktion verweigert, empfinde ich das nicht automatisch als destruktiv."

Über diese Aussage können Arbeiter und Angestellte in einer auf Effizienz gepolten Gesellschaft nur müde lächeln. Die so beschworene künstlerische Freiheit, sie ist natürlich erkauft. Mit prekären Lebensverhältnissen, zweifelhafter Zukunft. Den Wunsch der meisten Studierenden, sich der Malerei zuzuwenden, hinterfragt Anselm Reyle. Häufig verlören junge Maler ihre Frische, sobald sie sich mit ihrem Dasein als Künstler auseinandersetzen müssten. Nicht so Daniel Hauptmann, der eine großformatige Malerei in Weiß-, Grau- und Schwarztönen angefertigt hat. Das Dargestellte erweist der Schlachten- oder Historienmalerei Reverenz, setzt sich allerdings nicht inhaltlich, sondern kompositorisch mit Kräfteverhältnissen auseinander. Eine erstaunlich reife Arbeit. Mitunter fördert Anselm Reyle bei einem Studenten auch eine "abschreckende" Energie, die andere Kollegen eher brechen würden. Vladimir Schneider etwa hat ein Fritz-Kola-Werbeplakat übermalt. Er wurde bei "informeller Malerei im Stadtraum" schon des Öfteren erwischt.

Kunst ohne Scheitern gibt es auch für Anselm Reyle nicht. Die Mickymaus-Schaumstoffskulpturen von Stefan Wiens rufen auf Anhieb wenig Gefallen hervor. "Das wirkt abstoßend, hat aber eine eigene Stärke", sagt Anselm Reyle. "Schlimm ist nur, alles richtig machen zu wollen. Man muss sich auch peinliche Dinge erlauben." Wirkt wie ein idealer Nährboden für Kreativität. Und dann kann sie sich ganz individuell auszahlen, die Freiheit zur Kunst.

Jahresausstellung 2012 der Hochschule für bildende Künste Hamburg 5. bis 8.7., täglich 14.00 bis 20.00, Lerchenfeld 2 und Wartenau 15, sowie Schute, Industriestraße 125, Hamburg-Wilhelmsburg (Eröffnung 4.7., 19 Uhr, Aulavorhalle der HFBK), Eintritt frei; www.hfbk-hamburg.de