Warum fürchten sich Deutsche mehr als andere Völker? Weil sie traumatische Erlebnisse ihrer Vorfahren in ihren Genen tragen, so Forscher.

Hamburg. Zwanzig Jahre ihres Lebens wird Esther Schweins von zwei immer gleichen Albträumen verfolgt. Sie kommen oft dicht aufeinander, und manchmal träumt Schweins sie jede Nacht. Schweins sieht sich darin als kleines Mädchen mit langen Zöpfen und im Dirndlkleid. Fröhlich springt sie über eine Wiese, als ein Dunkelheit bringendes Grollen das Idyll zerstört. Es wird immer lauter. Es wird immer dunkler. Im Zenit der Finsternis hellt es sich schlagartig auf, und ein einäugiger Mann überreicht ihr einen Strauß Gänseblümchen.

Im zweiten Traum sitzt Schweins auf einem Erdhügel und spielt mit anderen Kindern mit bunten Glassteinen. Ein Kind nach dem anderen verschwindet, und sie weiß, dass auch sie irgendwann an der Reihe sein würde. Von dem schwarzen Lächeln düsterer Wachmänner wird sie sogleich aufgesogen, um - wie am anderen Ende eines Tunnels - wieder auf dem Lehmhügel ausgespuckt zu werden. Nur ist sie jetzt alleine. Wieder sieht sie den Einäugigen mit den Gänseblümchen. Mal kann sie ihn erreichen und den Strauß greifen. Mal nicht. Dann wacht sie schreiend auf. Was sollen solche Träume?

Erst als junge Frau - Esther Schweins ist knapp über 20, geht auf die Schauspielschule - kommt es zur überraschenden Auflösung: Ihre Mutter fragt sie, was sie denn da überhaupt träume all die Jahre. Als Esther endlich anfängt zu erzählen, bricht die Mutter in Tränen aus. Denn das, was seit zwei Jahrzehnten im Kopf der Tochter nicht zur Ruhe kommt, ist das große Kriegstrauma ihrer Erzeugerin. Die Mutter hatte nie darüber gesprochen. Die Traumbilder spiegeln exakt die Situationen ihrer größten Ängste: die Angst während eines Bombenangriffs und die Angst, genauso von der Bildfläche zu verschwinden wie die jüdischen Kinder.

Die Erfahrung von Esther Schweins könnte plastischer Beleg einer fast vergessenen These sein: Die deutsche Angst - durch die unzähligen Krisen der letzten Monate wieder in aller Munde - ist vererbbar. Auch das noch! Eine fundamentale Facette des germanischen Urgefühls scheint mit unseren Genen zu tun zu haben. Der vermutete Mechanismus dahinter: Die emotionalen Schockerlebnisse unserer Ahnen haben - sofern sie nur verdrängt und nicht aufgearbeitet wurden - Auswirkungen auf unser Erbgut. Somit werden sie von Generation zu Generation weitergegeben. Wir glauben, den Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet zu haben, aber in Wirklichkeit gärt er weiter in uns und kann selbst heute noch psychische wie körperliche Krankheiten ausbilden, deren wahre Ursachen uns gar nicht bewusst sind. Zieht man in Betracht, dass annähernd jede deutsche Familie derartige Kriegstraumata erfahren und es verpasst hat, diese zu verarbeiten - von der Vertreibung aus der Heimat bis hin zum Hamburger Feuersturm, von den Vergewaltigungen durch alliierte Soldaten bis hin zur miterlebten Judenermordung - kann man sich vorstellen, wie sich ein ganzes Volk von innen zersetzt, in Form lebensbedrohlicher Krankheiten, psychischer Leiden, Autoaggressionen und vor allem der Unfähigkeit, sich und andere zu lieben.

Das jedenfalls befürchten Psychotherapeuten wie Gabriele Baring, die sich seit zehn Jahren in praktischer Patientenarbeit mit dem Phänomen beschäftigt. "Wir können heute aus einer Zelle ein Schaf klonen", sagt die Berlinerin. "Das heißt, in einer Zelle stecken sämtliche Informationen. Ich behaupte, in dieser Zelle sind nicht nur die Informationen, die es braucht, um ein körperliches Wesen entstehen zu lassen. Es sind alle Informationen enthalten. Diese Informationen tragen wir bereits im Mutterleib in uns. Da diese Informationen in uns vorhanden sind, vom Bewusstsein aber nur das uns Bekannte erfolgreich bearbeitet werden kann, wird sich Schwieriges und Ungelöstes möglicherweise als Trauer, Angst, Wut oder Hass äußern. Gelingt es nicht, diesen Gefühlen zu entrinnen, kann das alle Arten von Symptomen nach sich ziehen und bis in den mehr oder weniger aktiv betriebenen Selbstmord führen."

Mit derartigen Äußerungen steht Baring - im Oktober veröffentlicht sie dazu ihr Buch "Die geheimen Ängste der Deutschen" - längst nicht mehr allein. Inzwischen zieht auch die etablierte Wissenschaft solche Zusammenhänge in Betracht. So verblüffte Professor Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, im Juni mit einer ungewöhnlichen Festrede sein Publikum. Als Thema hatte er sich aus aktuellem Anlass die berühmte deutsche Angst ausgesucht. "Das neue Forschungsfeld der Epigenetik befasst sich mit umweltbedingten Einwirkungen auf die Funktion des Genoms", erklärte Gruss anhand eines Projekts des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie, und sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel staunte in der ersten Reihe bei diesen Worten. "Tatsächlich können Faktoren wie Stress, Ernährung oder eben Traumata die Eigenschaften einer Zelle und damit den Organismus durch chemische Modifikation des Erbmaterials beeinflussen. Die Änderungen können sich auch auf die Nachkommen auswirken."

Sind die Ängstlichen, Depressiven, Frustrierten, Wütenden und Kranken von heute nun wehrlose Opfer, denen nichts anderes übrig bleibt, als ihr genetisches Schicksal zu ertragen? Nein, sagt Baring und fordert auf, sich auf eine Recherche-Reise in die eigene Historie zu machen, Gespräche zu führen, Tabus anzusprechen, die dunklen Punkte aufzulösen. "Beschäftigt euch mit eurer Familiengeschichte!", appelliert sie. "Stellt euch in die Schuhe eines jeden! Schließt das Böse nicht aus! Schaut liebevoll auch auf die, die sich etwas zuschulden haben kommen lassen! Schaut auf den Menschen, nicht auf die Taten! Spalte ich meine Familie von mir ab, kann ich nur krank werden oder zumindest sonderbar. Es gehören die dazu, die Helden waren, und es gehören die dazu, die keine Helden waren."

Esther Schweins ist fündig geworden. Sie habe die Ängste ihrer Mutter verträumt, ist sich die Schauspielerin heute sicher. Nicht, weil sie davon erfahren habe, sondern weil sie ganz tief in ihr steckten. "Ich habe die zwei Träume nach dem Gespräch mit meiner Mutter nie wieder geträumt. Ich habe mit ihr viele Tränen geweint. Endlich!"

Die vererbte Angst, sie ist ein Teil der deutschen Angst. Aber längst nicht der einzige. Die zweite große Quelle unserer Ängste ist unser Wohlstand. Das klingt erst einmal paradox, denn beruhigt Wohlstand nicht? Mit dem Durst nach Wohlstand ist das Bedürfnis nach Sicherheit verbunden, einer Sicherheit, die sich die Deutschen nach dem Totalverlust durch die Weltkriege erarbeitet haben und nicht wieder hergeben wollen. "Die Suche nach Sicherheit und die damit verbundene Angst um die eigene Sicherheit finden wir in Ländern, die wirtschaftlich entwickelt und hochgradig arbeitsteilig sind, wo der Einzelne darauf angewiesen ist, dass für seine Lebenssicherung nicht nur das private Streben wichtig ist, sondern dass die öffentlichen Einrichtungen intakt sind", kommentiert Professor Manfred G. Schmidt, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Heidelberg. "Deutschlandspezifisch allerdings ist die Erinnerung an Phasen fürchterlicher Unsicherheit, an Krieg, Vertreibung, Flucht, massenhaften Tod. Hinzu kommen ökonomische Traumata wie die Hyperinflation von 1923 oder die Währungsreform von 1948. Das durchschüttelt den Gesellschaftskörper so sehr, dass daraus ein Verlangen nach Sicherheit erwächst, das ungleich stärker ist als in anderen Ländern."

Diese Sicherheit ist jedoch nur eine vermeintliche, weil sie eine rein materielle ist. Der kräftezehrende Wiederaufbau bescherte den Deutschen das furiose Wirtschaftswunder. Das ging über in einen blind umjubelten Kapitalismus. Der Wunsch nach ewigem Wachstum prägte sich tief ein in den deutschen Wertekanon. Immer mehr Ankerpunkte für das persönliche Glück wurden in die materiellen Bereiche des Lebens montiert - und immer weniger in die geistigen Bereiche. Die Karriere, die Immobilie, das Ersparte, das Auto, das Handy, der Urlaub taugten plötzlich als Identifikationsmerkmale und Vertrauensgeber zugleich. Das Problem: Dies alles ist vergänglich und gerade in Krisenzeiten höchst bedroht. Das führt dazu, dass der Deutsche denkt, er sei verloren, wenn er etwas verliert.

Der Glaube jedoch, der selbst in schlimmster Stunde Zuversicht und Hoffnung gewinnen lässt, sowie das Vertrauen auf die eigene kreative Schöpferkraft, die imstande ist, im Niedergang noch den rettenden Ausweg zu finden, sind aus dem Blick geraten. "Ängste werden da größer, wo Egoismus und Isolation eingekehrt sind und die Gemeinschaftlichkeit abgeschafft wurde", kommentiert Pfarrer Bernd Siggelkow, der auf St. Pauli in Armut aufwuchs, zum Glauben fand und heute deutschlandweit mit der "Arche" gegen Kinderarmut vorgeht. "Vielleicht sollten wir einmal daran denken, dass wir nicht nur eine christliche Vergangenheit haben, sondern unser Glaube uns auch bestimmte Werte und Hoffnungen zurückgibt, die gewisse Ängste überwinden lassen. Eine Rückbesinnung auf Gott würde uns so manche Existenz- und Zukunftsängste nehmen."

Den Existenz- und Zukunftsängsten der Deutschen wird schon lange nachgespürt. Seit über 20 Jahren tut dies die R+V Versicherung mit einer Langzeitstudie. Diese zeigt regelmäßig, dass es vor allem die steigenden Lebenshaltungskosten sind, um die man sich in den bundesrepublikanischen Haushalten Sorgen macht. Dahinter steckt die Angst, sich vom Wohlstand verabschieden zu müssen, sich weniger leisten zu können und womöglich in die Armut abzurutschen.

Andere Studien wie der "Workplace Survey" des Personaldienstleisters Robert Half geben darüber Auskunft, dass deutsche Manager aus Angst vor Arbeitsplatzverlust viel seltener bei Krankheit das Bett hüten als Manager anderer Nationen. 55 Prozent bekundeten, dass sie sich lädiert zur Arbeit schleppten. Mit diesen Ängsten scheinen die Deutschen immer weniger klarzukommen. Die Zahl der psychischen Erkrankungen steigt rapide, immer mehr Menschen werden von Depressionen und Burn-outs heimgesucht.

Nicht nur für Theologen und Therapeuten sind derartige Trends Beweis dafür, dass der Kapitalismus gerade seine Kinder frisst und der Mensch ohne das geistige Element auf Dauer nicht auskommt. Auch in Management und Politik schleichen sich solche Erkenntnisse inzwischen ein, genauso wie der Mut, darüber zu reden. "Es gibt ein Stück Fügung, bei der Vertrauen, dass alles gut werden wird, einfach eine Berechtigung hat", sagt beispielsweise Roland Koch, letztes Jahr noch Ministerpräsident, jetzt Vorstandsvorsitzender des Baukonzerns Bilfinger Berger. "Die Erfahrung, dass es einen Lichtblick gibt, die Erkenntnis, dass dieser Lichtblick nicht an einem selbst liegt, dass das eine höhere Ordnung ist, der man Vertrauen entgegenbringen muss, die ist sicher genauso wichtig wie die Stabilität meiner eigenen Umgebung, meiner Familie." Und Bernd Kundrun, einst mächtiger Gruner+Jahr-Chef, meint heute: "Ich stehe in einem ganz normalen Alltag, ich habe unternehmerische Beteiligungen, erlebe dabei schwierige Situationen, werde Niederlagen erleiden, werde sicher irgendwann eine Krankheit haben und genauso sicher sterben. Diese Sorgen kann mir keiner nehmen. Das Einzige, was ich tun kann, ist, ständig daran zu arbeiten, dass mein Geist in der Lage ist, damit umzugehen. Aber diese tägliche geistige Weiterentwicklung ist für mich eine Lust, eine intellektuelle Herausforderung, zugleich auch eine Pflicht."

Auch Esther Schweins hat irgendwann die Kurve gekriegt. Sie stellte sich nicht nur ihrer Familienhistorie, sondern machte die geistige Welt als befreiendes Gegengewicht zu den materiellen Angststiftern aus und rät gar: "Betet! Betet ohne Unterlass! Das meine ich für alle Völker, mit oder ohne gegenwärtigen oder vergangenen Krieg. Betet miteinander! Beten ist nichts anderes als ein Gespräch. Man kann es überall tun, immer damit anfangen, alles rauslassen. Man kann für jeden und alles beten. Im Gebet kann man die Angst abgeben und loslassen. Lass los, und du wirst gehalten! Das Gebet kann mich nachher dorthin führen, worum es eigentlich geht. Und das ist Freude. Freut euch!"

Eine Erkenntnis, der ein langer Weg voranging, eine Pilgerreise, wie Schweins sagt. Es ist eine Pilgerreise zur eigenen Seele, eine schonungslose Innenschau, eine Inventur der Ängste, der die Deutschen seit so langer Zeit aus dem Wege gehen.

In dem Buch "Fürchtet euch nicht! Die Vertreibung der deutschen Angst" (Scorpio Verlag, 19,95 Euro) beschreibt der Hamburger Journalist Martin Häusler seine Reise durch die ängstliche Republik