Abschied von Vicco von Bülow, der 87-jährig starb: Ein Leben ohne Loriot ist möglich. Hellmuth Karasek über Deutschlands großen Humoristen.

Einen Augenblick lang stelle ich mir erschrocken vor, Loriot lebte noch, während ich einen Nachruf über ihn schreibe. Und dann male ich mir aus, wie er über die schlampige Schnelligkeit und Ungenauigkeit entsetzt gewesen wäre und sie missbilligt hätte, wie er alles missbilligte, was seinen Sinn für Akkuratesse, ja Pedanterie und seinen Kampf gegen die Ungenauigkeit und Schlamperei betraf.

Bei einem der letzten Interviews, die ich mit ihm in Ammerland am Starnberger See führte - es ist schon ein paar Jahre her -, führte er mich und meine Kollegen vom "Tagesspiegel" bei der Verabschiedung durch ein Zimmer, eine Art Vorzimmer, in dem sehr viele Porträts vieler von Bülows hingen. Er zeigte auf diese Bilder und sagte: "Sehen Sie, das sind alles meine Vorfahren. Ich fühle mich unter ihnen gut aufgehoben, und - sie sind alle schon gestorben. Das ist für mich tröstlich, denn dann werde ich es eines Tages auch können." Diesen Satz hat er später aus dem Interview gestrichen, und als ich ihn darauf ansprach, dass das schade sei, sagte er, er verstehe das, wolle aber ein Interview als Humorist nicht so traurig beenden. Ich könne den Satz aber jederzeit zitieren. Ich habe es schon ein paarmal getan, und er hat nie protestiert. Jetzt zitiere ich ihn das erste Mal, wo er wirklich tot ist. Ich bin sicher, dass er so gestorben ist, wie er es sich gewünscht hatte: mit dem nötigen Anstand und der ihm eigenen ernsthaften Würde.

Loriot, wie gesagt, war ein Pedant. Es gibt den unvergleichlich herrlichen Fernseh-Sketch - im Unterschied zu den meisten anderen fast ohne Worte und ohne Dialog -, da sitzt er in einem Wartezimmer, allein, das Zimmer sieht putzig ordentlich aus, mit Bücherregalen, Blumenvasen, Bildern und dem üblichen Schnickschnack. Ein deutsches Wartezimmer. Loriot wartet, ist nervös, blickt sich um, er hat sich zu große Zähne für sein Maskenspiel zugelegt, sodass er verkniffen aussieht und verdrossen. Sein Blick fällt auf ein Bild an der Wand, das ein wenig schief hängt. Er fixiert das Bild, nimmt Maß, steht auf und versucht es, gerade zu rücken. Prompt fällt das Nachbarbild aus dem Rahmen. Von nun an beginnt der Kampf eines Mannes gegen das Chaos der Welt. Seine Ordnungsliebe verwandelt das Zimmer in ein Schlachtfeld. Lampen kippen, Bücherregale krachen zusammen, Teller zerscheppern, ein Tisch kippt um, bis kein Stein mehr auf dem anderen geblieben ist, jedenfalls kein Möbel, keine Vase, kein Buch. Loriot ist erschöpft. Der deutsche David hat den Kampf gegen das Chaos verloren.

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Seine wohl berühmteste Nummer ist die mit der Nudel im Gesicht. Da spielt er die ernsteste Ulknudel der Nation. Er macht, akkurat und nüchtern wie ein Beamter, Evelyn Hamann einen Antrag ("Hildegard, sagen Sie jetzt nichts!"), und sie schnappt vergebens nach Luft und einem Einwand, weil ihm eine Nudel im Gesicht klebt und zu wandern beginnt, während er ihr den Heiratsantrag macht. Seine Werbung wird immer trostlos nüchterner, das Ergebnis immer vernichtend komischer. Ein Bürokrat richtet sich selber hin, ohne es zu wissen. Sie wird ihn wahrscheinlich trotzdem heiraten.

Die dritte Szene ist ein Sketch in einer Badewanne, in der sich zwei Herren wie zufällig und unerwartet treffen und nicht wissen, wie man sich in einer Badewanne benimmt, wenn man einander begegnet. Plötzlich und unerwartet. Was schlagen da die Benimmregeln vor? Wie meistert man eine solche Situation? Es versteht sich von selbst, dass Loriot diese Szene gezeichnet hat. Völlig undenkbar, dass der Herr von Bülow etwa mit einem anderen Schauspieler nackt in eine Badewanne gestiegen wäre! Daran darf man nicht einmal denken, so abwegig ist diese Vorstellung.

Loriot, das heißt Vicco von Bülow, der seinen Namen dem Familienwappentier, dem Pirol, auf Französisch entnahm, Loriot war der Glücksvogel der Deutschen. Er fing an, mitten in der Adenauer-Republik, die von den Benimmregeln der Frau Pappritz geprägt war (sie schrieb das Benimmbuch für die deutschen Diplomaten), einen deutschen Unglücksraben zu zeichnen. Es war ein knollnasiger, von spießigen Zweifeln heimgesuchter, todernster Mann, meist im Stresemann gekleidet, schwarzer Cut, schwarze Weste, gestreifte Hose, in der grauen Uniform der Adenauer-Republik. Deren Benimmregeln exekutierte Loriot, ein Knigge der Bonner Republik, gnadenlos an seinen Landsleuten, aber in gleicher Unerbittlichkeit an sich selbst. Loriots Beruf war der des Humoristen.

In der Tat war Loriot der große, begnadete Humorist der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts - so wie Wilhelm Busch der große deutsche Humorist des 19. Jahrhunderts war. Humoristen unterscheiden sich von Satirikern und Parodisten durch eine scheinbar winzige, zutiefst menschliche Eigenschaft: Sie gucken nicht von außen mit überheblich kritischem Blick auf die Schwächen der Deutschen, sondern sie bekennen sich als tragische Helden in einer dauernden Don Quichoterie dazu, dass sie Windmühlenkämpfe gegen sich selbst führen. Sie können den Nationalcharakter in eine heitere Lächerlichkeit überführen, weil sie diese selbst mit ihrer Umwelt teilen.

Wilhelm Busch und Vicco von Bülow haben die Inkarnation des Deutschen in große "Volksbücher" überführt. Die Wilhelm Busch-Alben von Loriot sind seine Fernseh-Sketche und seine Filme. Bei Wilhelm Busch gibt es eine Zwei-Bilder-Geschichte mit einem leeren Zimmer, das auf dem ersten Bild aus Bett, Kleiderständer, Standuhr und Stiefelknecht besteht und das die Unterschrift trägt: "Heut bleibt der Herr mal wieder lang. Still wartet sein Amöblemang." Das zweite Bild zeigt die Möbel, wie sie dem Auge eines Betrunkenen erscheinen müssen, nämlich verzweifacht: "Da kommt er endlich angestoppelt. Die Möbel haben sich verdoppelt."

Loriots Bildergeschichte vom Bilderrahmen im Wartezimmer ist dazu ein grandioses Pendant des Fernsehzeitalters, der Spießer von Loriot ist liebenswürdig und entsetzlich zugleich. Man muss sich den Sketch vor Augen halten, wo ein Weinvertreter und ein Staubsaugervertreter eine deutsche Hausfrau und sich selbst in einen Zustand versetzen, in dem sich ihr geistiges Mobiliar von Sekunde zu Sekunde verdoppelt.

Wilhelm Busch hatte das Glück und das Geschick, dass seine Bildergeschichten in das Zeitalter der Fliegenden Blätter fielen. Text und Bild gingen eine untrennbare Beziehung ein. Busch wurde so der Urvater des Comics.

Loriot hatte das Glück, dass seine Sketche, die brüllend komisch von todernsten komischen Vögeln handelten (alles Nachfolger von Hans Huckebein, dem Unglücksraben), in die Pionierjahre des Fernsehens fielen und dass er eine wagemutige Redaktion für seine deutschen Alltags-Szenen fand. Und in Evelyn Hamann eine selbstlos unerbittliche Partnerin, die sich wie er auf eigene Kosten lustig machen konnte.

Loriot wurde gern in Zeiten, die sich politisch engagierte kritische Züge anschminkten, als "unpolitischer Humorist" verharmlost. Zu Unrecht. Er hat alle politischen Kabarettisten, die stets etwas von CDU, CSU, SPD, SED etc. brandaktuell von sich gaben, mühelos überlebt. Und wer den von ihm gespielten Großvater am Weihnachtsabend verbissen zur Marschmusik mit Kriegsspielzeug hantieren sieht, weiß, wie genau Loriot den Deutschen im Nacken saß. Vielleicht, wie die meisten großen Humoristen, ohne es selber zu wissen.

Vor vielen Jahren hielt ich beim Deutschen Videopreis die Laudatio auf Loriot. Sie war sehr kurz, und ich schleuderte sie ihm direkt ins Gesicht: "Lieber Vicco von Bülow, Sie hätten mit Ihrem vornehmen Namen, mit Ihren tadellosen Manieren, Ihrer gepflegten Erscheinung, Ihren würdig weißen Haaren und Ihrer eleganten Kleidung Honorarkonsul, Kommerzienrat, Botschafter, ja Bundespräsident werden können! Und was machen Sie! Sie kleben sich stattdessen eine Nudel ins Gesicht! Schämen Sie sich!"