Die “Faust“-Produktion des Thalia-Theaters feiert Premiere bei den Salzburger Festspielen - und fesselt, verwirrt, nervt und erhellt.

Salzburg. "Das Unbeschreibliche, hier ist's getan" heißt es auf der Bühne der Salzburger Pernerinsel gegen 1.15 Uhr in der Nacht. Dann wird gesungen und getanzt, und die Namen der Mitspieler werden herausgebrüllt wie bei einer Fernsehshow, bei der bereits der Abspann läuft. Der "Faust"-Marathon, den Nicolas Stemann mit dem Thalia-Theater-Ensemble zu einer überbordenden Revue, Aufführung, Performance, zu was auch immer, inszeniert hat, nähert sich dem Ende. Und verwundert, sehr verwundert reibt man sich die klein gewordenen Augen darüber, dass man in den vergangenen knapp neun Stunden Zuschauer einer im ersten Teil fesselnden, im zweiten Teil wirren, irren, nervenden, mitreißenden, unverständlichen, erhellenden Inszenierung geworden ist.

Diese Zeit, die länger andauert als ein Transatlantikflug nach New York, hinterlässt eindringlich schöne Momente. Aber auch Erfahrungen, die man lieber gar nicht erst gemacht hätte. Wozu nicht nur die Verspannungen an Rücken und Nacken zählen, sondern auch plakative Kabarettszenen, fades Gitarrengeklimper und bis zur Sinnleere entstellte Textpassagen aus dem zweiten Teil der Tragödie.

Schon Goethe, der ein Leben lang, bis kurz vor seinem Tod am "Faust"-Stoff gearbeitet hatte, legte ihn als sinnverwirrendes Textkonglomerat und Illusionsspektakel an, als Messe voller Ausstellungsartikel der menschlichen Zivilisation mit einer Stippvisite ins Reich der Mütter, die griechische Antike, als Drama über die Wirtschaft, die Erzeugung eines künstlichen Menschen oder den Weltbesitz. All dies ist schwer zu fassen und bedarf der sinnlich sichtbaren Erklärung. Die liefern Stemann und sein Ensemble nicht. Aber sie zeigen, dass Faust ein moderner Mensch ist. Ein Mensch, der selbstbewusst die Welt ermessen, erobern und gestalten will. Mit allen Konsequenzen, die das für das globale Wirtschaftsgeschehen, die Umwelt oder das menschliche Zusammenleben hat.

"Faust", das ist die Tragödie des Wissen-Wollens, Goethes sprachliches Meisterwerk, das Prosa, Verse, Spottgesang, Volkslied, Hymne, Choral vereint und das mit Bedeutung und Experimentellem überrascht.

War Goethe ein Schwarzseher des 21. Jahrhunderts, der unsere globalen Krisen vorhergesehen hat, der die Beschleunigung, das Immer-mehr-und-weiter-Wollen als teuflischen Fluch und ungebändigte Selbstzerstörung erkannt hat? Auch das können wir aus der Aufführung lesen, die ihrerseits wild und manchmal planlos herumexperimentiert. Goethe wird da plötzlich zu Jelinek. Das ist verblüffend, bannend, gelegentlich komisch, aber auch quälend und ärgerlich. Modernes Theater eben, im Guten wie im Schlechten.

Was also hat Stemann mit seiner Inszenierung, was haben seine drei herausragenden Darsteller Sebastian Rudolph, Philipp Hochmair, Patrycia Ziolkowska und ein riesiges Drumherum aus malenden, singenden, musizierenden und puppenspielenden Darstellern gezeigt?

Im "Faust I", der Deutschen liebstem nationalen Drama über einen Gelehrten, der das Unmögliche will, der wissen will, was die Welt zusammenhält, der sie und ihre moralischen Grenzen für sich und seinen Trieb für zu eng hält, der mit diesem Leben abgeschlossen hat und mit dem Teufel einen Pakt schließt, um allmächtig zu werden; im "Faust I" also sitzt Sebastian Rudolph zu Beginn fast eine Stunde lang allein auf der fast leeren Bühne. Ein schlanker, junger Mann, der keine Verjüngungskur braucht. Ein Typ, der vieles weiß, sich aber darüber zu ärgern scheint, dass er den falschen Beruf ergriffen hat, beispielsweise, dass er BWLer ist, statt sich als Künstler verwirklicht zu haben. Also macht er Action, verbrennt sein Reclam-Heft, malt seine Tür graffitimäßig an und erfreut sich schon kurz darauf doch wieder am Irdischen.

Beim Osterspaziergang begegnen ihm zufriedene Bürger, die ihn ganz hamburgisch anschnacken - "ischa schoin hier die Elbe, näch?". Dann trifft er Mephisto, den Philipp Hochmair kraftvoll und verlockend gibt. Beide tauschen Texte, Rollen, jeder schlüpft in die Natur des anderen - zwei Seelen, ach, in einer Brust. Und siehe da, es ist verführerisch. Jeder hat "werd ich zum Augenblicke sagen, verweile doch" im Repertoire. Und es stimmt für beide. Man redet mit verstellten Stimmen die anderen Rollen, spricht Dialekte, wird zum Bauchredner, und als später Patrycia Ziolkowska als Gretchen dazukommt, übernimmt auch sie Teile von Faust und Mephisto.

Das wird stimmig, da eine moderne Frau nun wirklich nicht mehr auf das arme Hascherl reduziert werden kann. Ihr Faust wird drängend, und als Gretchen wundert sie sich mal erschrocken, mal erregt, mal fasziniert mit dem Satz: "Du lieber Gott, was so ein Mann doch nicht alles denken kann."

Auf den Wänden der Bühne, die Stemann gemeinsam mit Thomas Dreißigacker entworfen hat, sehen wir Filmeinspielungen, in denen Wirtschafts-, Sexual- und Sozialwissenschaftler über "Faust" referieren. "Was ist Zeit?", "Was ist Existenz?" heißt es da etwa, während Faust und Mephisto ganz physisch in Auerbachs Keller eilen, einen lärmigen Klub. Später schnuffelt Faust in Gretchens Kammer an ihrem Bett, und Mephisto muss ihm die Verführungsszene soufflieren. "Meine Ruhe ist hin", empfindet nicht nur das Gretchen. Doch während sie in ihrem Kerker tanzt, fliegen Faust und Mephisto auf die Rückwand projiziert zur Walpurgisnacht.

Im zweiten Teil, der von zwei Pausen unterbrochen wird, beginnt nun jenes teils schöpferische, teils wirre Chaos auf der Bühne, das mal Sinn und mal Unsinn ergibt. Von der kleinen geht's jetzt in die große Welt. Barbara Nüsse begrüßt im Abendkleid als Johann Wolfgang von Goethe das Publikum zur "größten Dichtung, die je in deutscher Sprache geschrieben wurde", 12 180 Verse.

Josef Ostendorf hält als Politiker auf der kaiserlichen Pfalz eine Rede über moderne Nationalökonomie, Birte Schnöink steckt in einer silberfarbenen Weltraumuniform als unglücklicher Kunstmensch Homunculus, Friederike Harmsen singt Arien oder auch "Ich bedeute wunder was und das macht mir wirklich Spaß", Franz Rogowski tanzt über die Bühne, und die Puppenspieler "Das Helmi" lassen Max Reinhardt, ein philosophisches Duett und viele andere Puppen tanzen, die Bühne wird bemalt, gefilmt, der Genre-Pluralismus, das Bühnen-Multikulti, bei dem auch Stemann selbst gelegentlich als Live-Sänger eingreift, regiert.

Lustig wird's, wenn Philipp Hochmair als postdramatischer Geheimrat darüber fabuliert, dass er das alles erfunden habe, erhellend, wenn Faust mit Helena im Bürgerglück vor dem Bungalow mit Spielplatz und turnenden Kindern sein Liebesglück genießt. Nervig ist's, wenn die böse kapitalistische Welt mit Protestplakaten und Demonstranten in Blaumännern und mit Tiermasken vorgeführt wird.

Am Ende sitzt Barbara Nüsse als alter Goethe im Lehnstuhl und um sie herum entstehen Megacitys. Alles führt zu allem. Oder wie es im "Faust" heißt: "Es irrt der Mensch, solang er strebt." Ein langer Abend führt zu einer klassischen Einsicht. Na dann, Goethe Nacht. Am 30. September hat der neunstündige "Faust" Premiere im Thalia-Theater.