Arno Schmidts “Zettel's Traum“ ist wohl der am meisten ungelesene Kultroman deutscher Sprache. Jetzt erscheint er erstmals als fertiges Buch.

Berlin. Die Buchhandlung heißt "Der Zauberberg", sie liegt im tiefsten Berliner Westen, in Friedenau. Thomas Manns großer Roman gehört zur Weltliteratur. Das werden von "Zettel's Traum" nicht alle behaupten. "Ein Spätstück großer Unlesbarkeit" sei das, urteilte ein Kritiker einst über Arno Schmidts monströs aus der deutschen Literatur herausragenden Brocken. Und trotzdem sind wir jetzt hier. Als Hamburger hat man ja die Verpflichtung, irgendwie, sich mit Schmidt auseinanderzusetzen. Gibt ja ein paar Leute aus der Hansestadt, die sich um das Werk des Polizistensohns aus Hamburg-Hamm verdient gemacht haben. Jan Philipp Reemtsma fällt einem da ein, Joachim Kersten. In der Arno-Schmidt-Stiftung sind sie treibende Kräfte, aber in Berlin stellen ihre Kollegen "Zettel's Traum" vor.

In einer Schmidt-Matinee, die ein kaum besser passendes Setting hätte finden können: im schönen "Zauberberg", dessen einzige, aber beeindruckende Erhebungen Regale voller Bücher sind. An den Wänden hängen Poster von Johnson, Beckett und Walser (Robert, glücklicherweise), und auf schätzungsweise 40 Stühlen sitzen mit angestrengter Miene schätzungsweise 40 Wagemutige, sie sitzen vi-à-vis dem Expertenteam, das für die Sache des Arno Schmidt ficht, mehr als 30 Jahre nach seinem Tod.

Man muss das nicht symbolisch sehen, dass Bernd Rauschenbach, Susanne Fischer und Friedrich Forssman mit dem Rücken zur Wand stehen. Hinter ihnen ist die Buchhandlung, die kein Thalia-Laden mit Rolltreppe ist, auch schon zu Ende. "Zettel's Traum" ist in dieser Buchsaison viel Aufmerksamkeit beschieden, Forssman sei Dank. Er hat in jahrelanger Arbeit die erste gesetzte Fassung des auf 1334 Seiten, mit Schreibmaschine und Hand beschriebenen, verewigten Werks besorgt: eine herkulische Tat. "Das war legitim, wir mussten das versuchen", sagt Forssman, natürlich hat er in Schmidt, wie viele, seinen Lebensautor gefunden.

"Zettel's Traum" ist so anspielungsreich, dass sich die studentischen Brillenträger und pensionierten Pfeifenraucher unter den Zuhörern wohl am liebsten sofort ins Wortgetümmel stürzen würden. Am besten alleine, mit Sekundärliteratur und in absoluter Stille.

Und weil in "Zettel's Traum", das an einem einzigen Tag im Sommer des Jahres 1968 spielt, so viele verschiedene Bücher stecken (Joyce! Poe! Shakespeare!), ist das Bild, das sich den Betrachtern bietet, natürlich eine schöne Andeutung: Die drei in Berlin weilenden Agenten Arno Schmidts, umgeben von Büchern, Lebewesen, die Buchstaben ausatmen und dann wieder ein.

Natürlich riecht es im "Zauberberg" nach Buch, und mit dem vom netten Buchhändler verteilten Text- und Arbeitsbeispiel wollen wir nun erklärt bekommen, was es mit dem Inhalt von "Zettel's Traum", mehr aber noch mit dessen Editionsgeschichte auf sich hat. In "Zettel's Traum" geht es, ganz grob gesprochen, um den Universalgelehrten Daniel Pagenstecher. Ihn besucht das befreundete Ehepaar Paul und Wilma Jacobi mit seiner 16-jährigen Tochter Franziska. Letztere ist ein Lolita-Persönchen, das den alten Pagenstecher ganz närrisch macht: Er bleibt stark, anders als Edgar Allan Poe, sein Hausgott und der von Franziskas Eltern, der hatte bekanntlich ein Verhältnis mit einer 13-Jährigen. Um Poe dreht sich das Gespräch ständig, wie überhaupt in einer Tour gesprochen wird. Er habe mit dem Buch gerungen "wie um die Liebe einer Frau", zitiert Rauschenberg den Literaturkritiker Denis Scheck, und das passt ganz gut zur freudianischen Ebene des Buchs, fügt sich überdies gut ein in die launige Performance der Schmidt-Jünger, die uns da so gekonnt für das einst kiloschwere Werk begeistern wollen. So viel wog der Text, mindestens, in der Faksimile-Ausgabe der Schmidt-"Zettel". Jetzt, in der ersten Drucksatz-Version, die das Typoskript ablöst und stolze 248 Euro kostet, ist der Roman, nun denn: handlicher.

Friedrich Forssman, der Typograf und Buchgestalter, steht also da und hält einen technischen Vortrag über seine Arbeit. Drei Spalten gibt es im nun 1536 Seiten langen "Zettel's Traum", diesem "flächensyntaktischen, hochkomplexen Ding", wie er sagt. Die mittlere Spalte wird von der Handlung gefüllt, rechts davon sammeln sich Ideen, Assoziationen, Kommentare, links: die Poe-Zitate. Schwierig beim Lesen, aber legendär in der Form. Und für einen Wortsetzer eine Heidenarbeit.

+++ Sechs qualvolle Klassiker +++

Wie auch, neben der schieren Textmenge, der von Schmidt gewählte absatzlose Blocksatz eine große Herausforderung für jemanden ist, der Sätze so über eine Seite verteilen will, dass sie ästhetisch anmuten und gut lesbar sind. "Es macht mir halt Spaß", sagt Forssman trocken und blickt in Gesichter, die wiederum ihn mitleidig anblicken. Ein komischer Vogel! Ein Schmidtianer.

Also, was lernt man von einem Arno-Schmidt-Setzer? Dass viel Freude am Detail nicht schaden kann. Dass 15 000 optische Korrekturen beim Probedruck erwartbar sind. Dass, nach Abschluss der Arbeit, die fünf Jahre netto und brutto noch viel mehr in Anspruch nahm - zuerst trug man sich ja jahrelang nur mit dem Plan herum -, eine narzisstische Kränkung steht: Denn wie alle Buchgestalter hat Forssman deswegen seine Arbeit gut gemacht, weil er "unsichtbar" geworden ist.

Arno-Schmidt-Leser sind seltsame Menschen: Sie sind mal auf die Idee gekommen, Zettel's dreispaltigen Traum dreistimmig zu lesen, vor Publikum. Es kam gut an und klang wie Musik in den Ohren der Schmidt-Fans. Ob in der kleinen Berliner Buchhandlung "Der Zauberberg" künftige Leser gewonnen wurden, steht dahin, ist aber nicht unwahrscheinlich: Beschwingt lesen Forssman, Rauschenberg und Fischer aus dem nun erstmals klar strukturiert vor uns liegenden Werk, dass es eine Freude ist. Muss ja nicht viel passieren, in so einem gelehrten Buch. Der Verfasser dieser Zeilen hat "Zettel's Traum" natürlich nicht gelesen.