Die Ausstellung in Hamburg zeigt, wie sich das Bild vom Körper in den letzten 150 Jahren verändert hat. Es sind 220 Original-Abzüge zu sehen.

Hamburg. Münchens Englischer Garten war schon immer ein Hort der Spaß-Nackedeis. Nacktradler oder Nacktflitzer haben hier bundesweit für Aufregung gesorgt. Überhaupt herrscht in katholisch geprägten Gefilden ein freudiger Umgang mit den nackten Tatsachen menschlichen Daseins. Das musste auch Sabine Schulze, Direktorin des Museums für Kunst und Gewerbe, erkennen, als sie 2009 das Münchner Stadtmuseum an die Elbe einlud. Obwohl beide Museen über ähnlich strukturierte Fotosammlungen verfügen, hat die Hamburger Sammlung ein entscheidendes Manko. Man ist hier wortwörtlich bis obenhin zugeknöpft.

Also hilft Bavaria den Hanseaten jetzt aus, um Einblicke in "150 Jahre Körperbilder in der Fotografie" geben zu können. Unter dem Titel "Nude Visions" zeigt das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe mehr als 200 Vintage Prints aus der Sammlung des Münchner Stadtmuseums, erweitert um Bücher und Mappenwerke, die alle lediglich um das eine kreisen, nämlich die tausendfachen Kostüme von Adam und Eva.

Wer sich auszieht, ist noch lange nicht entblößt. Im Mittelpunkt der in sieben Kapitel unterteilten Ausstellung steht überwiegend der Akt, die bewusste Inszenierung und Aneignung des unbekleideten Körpers im Zeichen unterschiedlicher Ideologien, Utopien oder Lehren. Es macht halt einen Unterschied, ob Prostituierte und Obdachlose, das traditionelle Personal für bildende Künstler, auch der Kamera im 19. Jahrhundert für Studienzwecke Modell stehen oder ob der aktuelle Gouverneur von Kalifornien einst seinen muskulösen Körper in plastischer Hell-dunkel-Modellierung zur Schau stellte.

In diesem breiten Spektrum zwischen akademischem Interesse, wissenschaftlicher Studie, Verklärung, bildlichem Outing für Homophilie, neuen Lebensentwürfen, surrealistischen Verrätselungen, glamouröser Körperfeier oder politischem Skandalon bewegt sich "Nude Visions".

Man sieht Friedensreich Hundertwasser anno 1967, als er anlässlich seiner "Großen Architekturrede" gegen das Diktat der geraden Linie auf seine bürgerliche zweite Haut verzichtet. Man folgt dem kindlichen Reigen der Lebensreformer, wie sie im freudigen Erkennen der eigenen Nacktheit einer verheißenden Zukunft entgegentanzen. Oder man blickt Marilyn Monroe während einer "fotografischen Liebesaffäre" tief in die Augen oder noch etwas tiefer.

Ganz wie der Mensch sich selbst schuf und noch immer erfindet, bewegen sich die Körper in plüschigen Innenräumen, sizilianischen Gefilden, in solarisierten Zuständen, im Koordinatensystem reiner Lehre, im Zeichen der Kunst, im Visier einer formal ästhetisierenden Kamera oder im rebellischen Rausch der 68er, je nachdem, welches Kapitel die Ausstellung aufschlägt.

Die Liste der Fotografen, die hinter diesen Akten stehen, ist lang und mit prominenten Namen gespickt, unter anderem Frantisek Drtikol, André Gelpke, Wilhelm von Gloeden, André Kertész, Herlinde Koelbl, Eadweard Muybridge, Helmut Newton, Otto Steinert, Thomas Ruff und Wols. Aus der Mitte des 19. bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts stammen die ausgewählten Fotografien, gehalten im bis in die 1980er-Jahre üblichen Klein- und Mittelformat. Das entrückt sie von der Gegenwart, die hauptsächlich an das Großformat gewöhnt ist. Aber wer genau hinsieht, spürt oft eine unbeabsichtigte Aktualität in den Arbeiten.

Die zivilisationsmüden Lebensreformer mögen in ihrem betont unerotischen Körperkult Schmunzeln hervorrufen. Doch ihre Vision vom vegetarischen Leben und regionaler Verbundenheit macht sie zu geistigen Vorfahren heutiger Nachhaltigkeitsjünger. Und wenn vor 150 Jahren die zehnjährige Eugenie von Klenze halb nackt im unschuldig kindlichen Schlaf vor barocken Vorhängen schlummert, demonstriert das ein für heutige Verhältnisse undenkbares Maß an geistiger Freiheit. Prominenz, die heute ihren Nachwuchs entsprechend zeigen würde, bekäme von Politik und Medien ihr Todesurteil gefällt.

Das Verhältnis von Prüderie und Freiheit hat sich da auf eigenartig bigotte Weise verkehrt. Sicherlich lässt sich mit Nacktem heute kein Schock mehr auslösen oder Schamesröte erregen. Aber das Nackte und die Moralvorstellungen von damals - und die meisten der Exponate sind historische Aufnahmen - konfrontieren das Publikum auch immer mit der eigenen Begrenztheit eines heute scheinbar nicht tabuisierten Umgangs mit dem Nackten.

Nude Visions. 150 Jahre Körperbilder in der Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, 29. Januar bis 25. April