Eine Hamburger Kellerkneipe in der ABC-Straße wird zum Kreuzungspunkt unterschiedlichster Nachkriegsschicksale.

Hamburg. Komm mit mir in die Palette. Die kennst du nicht? Das ist das tollste Lokal der Welt. Die Palette ist das Beste, was es in Hamburg gibt." Der Kellerkneipe hat der Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte (1935 -1986) in seinem Roman ein literarisches Denkmal gesetzt. Dort, wo es heute in der ABC-Straße - nur wenige Schritte vom Gänsemarkt entfernt - vier Stufen hinaufgeht zur Schaufensterfront einer Hotel-Passage, ging es in den Sechzigerjahren vier Stufen hinunter in das berüchtigte dreckige "Gammler-Lokal" in der damals noch vom Krieg geschädigten Neustadt. Der Platz mit dem Lessing-Denkmal wird aber nicht nur zum Treff der damaligen "Bohème", den jungen Ausgeflippten, Alkoholikern, Aussteigern und Rebellen gegen die Spießer, sondern für Jäcki - das Alter Ego des Autors - zu einem Kreuzungspunkt seiner Welt- und Zeit-Erfahrung.

Drei Jahre lang war Hubert Fichte Stammgast in der "Palette". Der etwas Ältere, damals um die dreißig, gehörte nicht eigentlich zu den "Palettianern". Bereits angehender Schriftsteller - Fichte hatte einen Erzählband und den Erstlingsroman "Das Waisenhaus" geschrieben - blieb der "Halbgammler" zumeist ein distanzierter Beobachter, führte Gespräche, machte Notizen und sogar Tonband-Interviews. Denn die im Roman auftauchenden Typen - Igor, Jürgen, die Trippersusi oder Reimar Renaissancefürstchen - haben konkrete Vorbilder, auch wenn sie mehr oder weniger verfremdet gezeichnet sind.

"Wir dachten, er ist ein Spinner" erinnert sich Uta Juster, die Fichte als "Heidi" zu einer Zentralfigur seines Romans machte, in einem Interview mit Theo Janssen und Jan-Frederic Bandel, dem Autor von "Fast glaubwürdige Geschichten: Über Hubert Fichte". "Keiner hat geglaubt, dass er wirklich Schriftsteller ist." Denn jeder hat sich im Ersatzzuhause als das inszeniert, was er sein wollte. So gab ein Junge lieber vor, Stricher zu sein, als zuzugeben, dass er braver Lehrling ist. Fichtes Homosexualität war zwar bekannt, aber in der Palette nicht mehr als geduldet, denn sie war damals noch ein Strafdelikt. Drogen spielten erst kurz vor der Schließung 1964 eine größere Rolle.

Vier Jahre später ist Fichtes Schlüsselroman erschienen. Marcel Reich-Ranicki nennt ihn in der "Zeit" schamlos, oft peinlich und bisweilen grausam, rügt sich einstellende Monotonie und wortspielerische "Kindereien", erkennt jedoch das Potenzial von Fichtes Großstadtprosa an: Auf der literarischen Landkarte ordnete der Kritikerpapst "Die Palette" am Schnittpunkt verschiedener Koordinaten ein - "irgendwie zwischen Döblins Berlin, Millers Paris und Brechts Soho, zwischen Grass' Danzig-Langfuhr und der niedersächsischen Welt Arno Schmidts" - und bescheinigt ihm "seinen realen Platz auf der politischen und geografischen Landkarte Westdeutschlands".

Der Roman erweist sich - aus radikal subjektiver Perspektive - als ein präzises Soziogramm der Zustände, in denen sich die Studentenrevolte und 68er-Bewegung vorbereiteten. In der assoziativ sprunghaften, lakonischen Erzählweise, wie auch im Slang-Vokabular lässt Fichte die Figuren und ihre damalige (enge) Vorstellungswelt lebendig werden, lieferte das Dokument einer ganzen Generation, über das man geneigt ist zu sagen: "Ja, so war das damals wohl."

Dennoch hat der Autor, alles andere als ein Hamburger Heimatdichter, den Stoff aus der Wirklichkeit gefiltert und künstlerisch bearbeitet: ihn einmal "rhythmisch", dem damaligen Musik-Beat entsprechend, komponiert und zugleich "filmisch" geschnitten in eine Form gebracht - inspiriert durch die amerikanischen Beatnik-Autoren aus den 50er-Jahren.

Jack Kerouacs Diktum vom Buch in Drehbuchform, das der Film in Worten ist, trifft auf Fichtes Schreibweise zu: "Bilder, flickernd und voller Sprünge, Aufnahmen auf hochempfindlichen Filmstreifen", beschreibt Rolf Dieter Brinkmann im Essay "Der Film in Worten" (in "Acid", März-Verlag, 1969) die Methode der Auflösung literarischer Vorstellungsmuster mittels Erweiterung der tradierten Formen: "... ein Film, also Bilder - also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster."

Im Brennspiegel der Palette und in der Scharfstellung seines Kamerablicks ist Hubert Fichte ein "authentischer", und zeittypischer Film in Worten gelungen, in dem sich aus treffsicheren, brutal offenen wie kritisch-ironischen Momentaufnahmen ein fesselndes Panorama über Alltagsleben und Underground in der Hansestadt der 60er-Jahre fügt - schillernd zwischen Doku- Fakten und "Fiction-Ich".

Denn Fichte hat sich natürlich als Schriftsteller genauso inszeniert, wie er schreibend die Wirklichkeit stilisierte.