Frisch verlassen, neu in Hamburg, einsam - und draußen flirrt der Frühling. Ulla Hahn erzählt, wie die Poesie der Alster ein Herz heilt.

In Hamburg stimmte diesmal alles, sogar das Wetter. In Hamburg, ja. Aber in Köln, von wo ich hierher geflohen bin, stimmte gar nichts mehr. Mein Freund war auf und davon mit einer Malerin; sie illustrierte sein Buch, Eine Nacht am Rhein , Stoff für eine Soap im Vorabendprogramm. Der Kerl zog aus unserer Wohnung zu ihr, war mir also aus den Augen, aber noch lange nicht aus dem Sinn. Tapetenwechsel, riet meine Hamburger Freundin, die für drei Monate einen Praktikumsplatz bei einer Consulting-Firma in China ergattert hatte und nun so tat, als täte ich ihr einen Gefallen, wenn ich in ihre Mansarde zöge, direkt an der Alster.

Hier saß ich also im Vorwonnemonat April und versuchte Beates Rat zu beherzigen: Lass es dir gut gehen, befahl ihr Zettel auf dem Küchentisch, und sie hatte das Ihre dazu getan. Der Küchenschrank war gut gefüllt, Joghurt, Pizza, Cola Light. Nur die halbe Flasche Champagner, Rosé, hätte sie nicht dazustellen sollen. Mein Herz tat einen gewaltigen Schlag beim Anblick dieser Flasche für besondere Anlässe - Aldis erstes Buch, mein Bachelor -, und die ganze alte Anhänglichkeit war wieder da, nur gab es nichts und niemanden mehr, an dem ich mein hingebungsbedürftiges Herz hätte festmachen können. Und nun auch noch dieser unverschämte Frühling, wie er drängender gar nicht aus den dürren Zweigen und der kahlen Erde platzen konnte. Dazu Menschen in den Alsterwiesen, paarweise auf Bänke und Decken verteilt. Es war eine Schande, hier oben in meinem, Beates, Dachstübchen zu sitzen und hinabzublicken auf die zartgrün nickende Weide, die ersten Segelboote, Kanus und Ruderer. Und die Paare! Wenn ich denn aufsah.

Ich hatte mich mit Büchern eingedeckt, Bücher für meine Masterarbeit in Germanistik, die frühen Minnelieder Walthers von der Vogelweide. Bei einer Flasche Rosé, einer ganzen, hatte ich mit Aldi dieses Thema, mein Wunschthema, gefeiert. Aldi, eigentlich Adalbert, die Billigmarke hatte sich als Spitzname eingebürgert.

Meine Zeit im Hamburger Exil wollte ich nutzen, sine ira et cum studio, ohne Zorn, aber mit Eifer die Arbeit ein Stück voranzubringen. Aber schreiben Sie mal, die Herzränder überquellend von Verlassenheitsschmerz, ein Referat über "under der linden, bei der heiden, wo unser beider bette was", ohne dass Ihnen bei jedem Tandaradei die Tränen fließen oder Sie vor Wut mit den Zähnen knirschen. Ich jedenfalls konnte es nicht. Ich saß und es floss und es knirschte und das Papier blieb leer. (...)

Ich saß schon die zweite Woche über Walthers Liebesliedern und den dazugehörigen Professorenschriften - Sie glauben gar nicht, was sich gelernte Gelehrte alles einfallen lassen, um Gefühlen über Gefühle aus dem Weg zu gehen - als ich ihn in den letzten Apriltagen unweit des Anlegers erblickte. Es war noch früh am Morgen. (...) Zwischen zwei Weiden hatte er sein Stühlchen aufgeklappt, daneben eine Tasche und eine Angel, festgesteckt im lockeren Boden, eine zweite hielt er in der Hand. Unbeweglich, als posiere er einem Bildhauer für das Denkmal eines Anglers. Geduld und Zuversicht waren die beiden Wörter, die mir bei seinem Anblick einfielen, und mit den Wörtern stellten sich, zaghaft zunächst, dann immer deutlicher, auch die wortwörtlichen Gefühle ein. Geduld haben musste ich mit mir und meinem wunden Herzen und die Zuversicht dessen teilen, der seine Angel ins Ungewisse warf. Geduld und Zuversicht verstärkten sich, je länger ich mich in den Anblick des Anglers vertiefte, der, als die eine Gerte erzitterte, die Beute durchs hohe Frühlicht aus ihrem Element zog, behutsam vom Haken löste und wieder zurückwarf. Kurz darauf erzitterte die Rute in seiner Hand, und auch diesmal ließ er das Fischlein frei.

Ich trat vom Fenster zurück und schlüpfte in mein Laufzeug. Nichts hilft besser gegen Seelenschmerzen aller Art als loszutraben, bis die Beine schwer werden und das Herz leicht, wenigstens vorübergehend. Heute war ich auch neugierig, diesen Jäger, der seine Beute so zärtlich verachtete, aus der Nähe zu betrachten.

Im Eichenpark war es noch ruhig, doch den Weg hinter der Krugkoppelbrücke machten sich schon Hunde, Jogger, Walker - warum die an zwei Stöcken mit scharrenden klappernden Eisenpiken die Morgenstille stören mussten - streitig. Fritzchen, der alte Dackel, 14 Jahre, menschlich gezählt knapp 100, hatte mal wieder die Orientierung verloren, Frauchen, im Gespräch, mit einer Hundefreundin, schon weit voraus. Der Angler kehrte mir den Rücken zu, und vom Profil ließ sich unter der Kappe wenig erkennen, nicht einmal sein Alter.

Meine Strecke ging bis zur Alten Rabenstraße, Polizeiwache und Anleger der Alster-Schifffahrt. Hier umkreise ich die alte Pappel, nie, ohne sie zu berühren, als versichere mir die zuverlässige Borke: Ja, ich war wirklich da.

So wie der Angler, der bei meiner Rückkehr noch immer auf seinem Dreibein saß. Nun mit beiden Angeln neben sich. Auf den Knien ein Schreibblock. In der Hand ein Stift, billiges grünes Ding, so wie auch ich sie benutzte. Ein schreibender Angler? Ein angelnder Schreiber? Nach Wörtern angeln? Und die zu kleinen, zu großen, zu dicken, zu dünnen zurück ins Alphabet?

Ich saß beim Milchkaffee, als das Handy zirpte. So früh am Morgen? Sicher Beate. Nein, die Nummer kannte ich nicht. "Beförderer vieler Lustbarkeiten", las ich, "du angenehmer Alsterfluss!" Ich drückte die Löschtaste. Offensichtlich ein Irrläufer. Oder eine blöde Werbung, irgendwie verstümmelt. Vielleicht für die Alster-Schifffahrt.

Ich ging ans Fenster. Der schreibende Angler hatte Dreibein und Angeln verstaut und sich auf der Bank unter einer der Eichen ausgebreitet, die dem Park den Namen geben. Abwechselnd sah er hinaus aufs Wasser, dann wieder aufs Papier, auf den Stift in seiner Hand, die Beute, die seine Augen fingen, in die Sicherheit der Wörter auf dem Papier zu bringen, scheute er sich wahrlich nicht. Die Hand flog nur so übers Blatt.

Seufzend wandte ich mich wieder meinem Walther von der Vogelweide zu. Wie heißt es doch in den "Meistersingern"? "Ein guter Meister! - Doch lang schon tot".

Die sonderbare SMS ging mir nicht aus dem Kopf. "Beförderer vieler Lustbarkeiten" - was für ein Deutsch im 21. Jahrhundert. So verschroben, dass es schon wieder, nein, nicht modern wirkte, aber doch herausfiel aus dem allgemeinen üblichen Getöne. "Du angenehmer Alsterfluss." Wie wahr! Selbst die alten deutschen Eichen an ihrem Ufer voller zartgrüner Heiterkeit.

Was sollte ich mit "under der linden", wenn unter der Eiche vor meinem Fenster ein junger Mann saß, der offenbar mitten in der Woche nichts Wichtigeres zu tun hatte, als zu angeln und zu schreiben?

Ich versuchte mich zu konzentrieren, doch immer wieder schlich ich ans Fenster. Er saß im Schatten des Baumes, schaute und schrieb. Und dann, gegen Mittag, war er weg.

Dafür kam schon wieder eine SMS. "Du mehrest Hamburgs Seltenheiten und ihren fröhlichen Genuss." Wie, was? Ich sollte Hamburgs Seltenheiten mehren? Wer wusste überhaupt, dass ich hier war? Mein Billigladenvertreter Aldi kannte meine neue Handy-Nummer nicht, in Hamburg hatte ich nur ein paar flüchtige Bekanntschaften, und meine Studienkollegen wussten nicht einmal, dass ich in Hamburg war. Blieb Beate.

Aber die neigte nicht zu derlei Blumigkeiten. Ich klappte Walthers Minnesang zusammen und machte mich auf ins Cliff . Der Weg dorthin und ein Latte macchiato waren schon zu einer willkommenen Gewohnheit in meiner klösterlichen Abgeschiedenheit geworden. Sogar einen Lieblingsplatz hatte ich schon. An schönen Tagen, und es hatte bislang keine anderen gegeben, steuerte ich gleich auf den Zweiertisch am Wasser zu.

Und da saß er. Vor sich eine Cola und den Schreibblock, Recyclingpapier, wie auch ich es benutze. Was blieb mir übrig als der Tisch daneben, die Sicht aufs Wasser von einem mächtigen Rhododendron versperrt. Aber nicht auf ihn. Ingrimmig und ausgiebig studierte ich sein dunkelbraunes gewelltes Haar, das ihm fast bis zu den Schultern fiel, die fein gebräunten Wangen, den schmalen Nasenrücken, den vollen roten Mund. Dann, als er unverhofft den Kopf hob, traf sein Blick so voller argloser Heiterkeit in meine erbittert stierenden Augen, dass ich ihn einfach anlächeln musste.

Mein Milchkaffee kam. Ich trank, er hob sein Colaglas wie zu einem Prosit und gab mein Lächeln mit Zins und Zinseszins zurück. Seine dunklen Augen glänzten wie reife Herzkirschen. Warum nicht? Ich nickte ihm zu, deutete auf den Stuhl mir gegenüber, er auf den an seinem Tisch. Sprang auf und trug meine Kaffeeschale zu sich herüber. "Viel bessere Sicht hier", kommentierte er und bot mir seinen Platz an, der ja ohnehin der meine war.

Mein Handy, eine SMS. "Tschuldigung."

"Dir schallen zur Ehre", las ich, "die spielende Fluth! Die singenden Chöre, der jauchzende Muth." Kopfschüttelnd drückte ich die Taste, diesmal die zum Speichern. Wenn das Werbung sein sollte, dann war sie ein einziger Fehlschlag.

"Ärger?", fragte mein Gegenüber, reckte den Kopf und lächelte bis in die Augen.

"Blödsinn", erwiderte ich. "Seit heute Morgen. Eine SMS nach der anderen. Haben Sie so was schon mal gehört?" Ich holte die SMS aufs Display, las ihm die seltsame Botschaft vor.

Doch statt des erwarteten Hohns kniff mein Nachbar die Augen zusammen und kommentierte: "Gar nicht so schlecht, 'jauchzender Muth', das hat was. Da schreibt Ihnen einer ein Liebesgedicht."

"Mir?" - "Ja, wem denn sonst?" - "Sie kennen ja die anderen SMS noch nicht." - "Und die wären?"

Ich wiederholte die beiden vorangegangenen Mitteilungen und bemerkte nun auch, dass es sich um Verse handelte, die allerdings nicht mich, sondern die Alster feierten. Und wirklich. Während ich hier saß mit Milchkaffee und Friedrich - so hatte sich mein schreibender Angler vorgestellt -, den Blick auf die weißen Segel im blauen Himmel, auf ein Schwanenpaar und träge schwingende Möwen gerichtet, bemerkte ich, wie sich die Klammer um mein Herz zu lösen begann und sich etwas einstellte vom "jauchzenden Muth".

Friedrich erhob sich, bin gleich wieder da, ich sah kaum auf von den heiteren Frühlingsfarben, sog den Duft des blühenden Kirschlorbeers ein und genoss die kleine Vorfreude, dass gleich einer an meinem Tisch zurückkehren würde, zu mir und seinem Schreibblock. Ich spingste. Zeilen unregelmäßiger Länge, etwa Gedichte? Eine Klaue hatte der Mensch!

Mein Handy. "Der Elbe Schifffahrt macht uns reicher", stand da, "Die Alster lehrt gesellig seyn!" - "Da", ich schob Friedrich, der mit zwei Kuchentellern zurückkam, mein Handy zu. "Lesen Sie selbst."

"Recht hat er", grinste Friedrich. "Schicken wir doch eine Antwort. Was reimt sich denn auf reicher?" - "Weicher, Streicher ..." - "Na, in Hamburg ja wohl 'Speicher'. Kennen Sie die Speicherstadt schon?"

"Wieso? Seh ich aus wie ein Quittje?"

"Na ja, die typische Hamburgerin stelle ich mir anders vor."

Er hatte recht. Beate, groß, blond, bisschen eckig, die war mit Elbwasser getauft.

"Also Speicher." Friedrich knabberte an seinem grünen Kuli. "Wie war das noch? 'Der Elbe-Schifffahrt macht uns reicher; die Alster lehrt gesellig sein!'" Er ließ den Kuli sinken und strahlte mich an: "Durch jene füllen sich die Speicher, auf dieser schmeckt der fremde Wein." "Bravo!" Ich schlug die Hände zusammen. "Sie treiben wohl selbst ein ähnliches Gewerbe?"

Friedrich wiegte den Kopf: "Erraten." Und dann redete er drauflos mit dem unbefangenen Eifer eines vor Lebenslust übersprudelnden Kindes, seine Augen von einem Lächeln erleuchtet, das mir überaus gefiel. Und mich verwirrte. Wäre listig nicht ein so zweideutiges, eher negatives Wort, würde ich es so genannt haben. Doch um listig zu sein, war sein Lächeln zu unbefangen. Am besten passte so ein altmodisches Wort wie verschmitzt. Wie ein Kind sah er aus, ein Kind, das etwas getan hat, was ihm selbst lustig scheint, andere aber - wie es wohl weiß - für eine Missetat halten könnten; aber auch, dass man ihm nicht ernstlich böse sein kann: Denn am Ende wird es, wenn man selbst nicht drauf kommt, alles von sich aus erzählen.

Natürlich war mir das alles nicht so bewusst, nur das mir wohl war unter den Augen dieses Mannes wie schon seit Monaten nicht, das fühlte ich ohne jeden Zweifel. Und während wir uns den frischen Rhabarberstreusel schmecken ließen, erzählte Friedrich, dass er Wiso studiere, notgedrungen, ein anderes Studium finanziere sein Vater nicht. Sein wirkliches Interesse aber gelte der Literatur, und er nutze jede freie Minute zum Schreiben.

"Und zum Angeln!", lachte ich.

Die Angeln, erwiderte Friedrich, packe er nur zum Schein ein, so könne er frühmorgens aus dem Haus gehen und ungestört sein. Er wohne ja auch ganz in der Nähe, Heilwigstraße. Das weiße Haus jenseits der Streek-Brücke.

"Das ganze Haus?"

"Tja, das ganze. Daher wohne ich auch noch dort. Dachgeschoss. Eigene Klingel, alles separat. Aber Eltern sind Eltern. Schon was vor heute Abend?"

"Walther von der Vogelweide", seufzte ich. "Sonst nichts."

"Außer mir." Friedrich klappte seinen Schreibblock zusammen. "Um acht? Sie müssen mir noch sagen, wo."

Das Abendblatt druckt Auszüge aus Ulla Hahns Erzählung.