Ulla Hahns Roman “Aufbruch“ ist eine Zeitreise in die 60er. Die Fortsetzung von “Das verborgene Wort“ erzählt vom Leben in der Provinz.

Wunschsteine, Lesesteine, Lügensteine. Die Kiesel aus dem Rhein, von deren Geheimnissen der Großvater gesprochen hatte, liebt Hilla Palm immer noch. Sie haben getröstet, ermutigt, entlastet von den Sorgen einer lieblosen Kindheit. Jetzt ist Hilla eine junge Frau, die sich in den 1960er-Jahren aus dem Mief von Heimat und Elternhaus herauskämpft. Und sie entdeckt für sich den Willstein, das Symbol des eigenen Wollens.

Dass Ulla Hahn nach "Das verborgene Wort" (2001) die Geschichte von Hilla Palm fortsetzt, wird eine große Fan-Gemeinde ersehnt haben: Noch heute schenken ihr Leserinnen und Leser Steine mit besonderen Erinnerungen. Jahre habe sie gebraucht, um sich dieser halbbiografischen Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte zu stellen, hat Hahn gesagt. Auch wenn Marcel Reich-Ranicki "Das verborgene Wort" verriss: Unzählige Leserinnen erkannten sich in Hilla Palm wieder, diesem viel zu wissbegierigen Mädchen, das sich mit den begrenzten Möglichkeiten seiner Herkunft nicht begnügen will. Hahn, geboren 1946, hatte einen Nerv ihrer Generation getroffen.

Auch Teil zwei, "Aufbruch", ist jetzt eine Zeitreise zurück nach "Dondorf" in den rheinischen Provinzialismus der 60er-Jahre mit seiner Mischung aus Konventionen, Kohlsuppe und Katholizismus. Ein Milieu, das sich gegenüber allen Komplikationen am liebsten verschlossen hätte: dem Kalten Krieg, den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils und den Beatles. Dondorf im Buch ist nicht identisch mit Monheim am Rhein, wo Hahn aufgewachsen ist. Es könnte auch an der Unterelbe oder an der Fulda liegen - Dondorf war überall.

Während ihr Bruder selbstredend aufs Schlossgymnasium gehen darf, hat Hilla in ihrer ländlich-kleinbürgerlichen Familie erst durchboxen müssen, dass sie am Aufbaugymnasium das Abitur machen kann. Überrascht erkennt sie, dass ihre Lehrer ihr eine Meinung, einen persönlichen Zugang zum Stoff abfordern. Latein, sonst der Schrecken der Mittelstufe, öffnet neue Einblicke in die Sprache: Latein steckt in Linie, feminin, Mode, Kandidat, Disziplin, Käse und Spinat. "Un wat has de davon, dat de das all weißt?", fragt ihre Tante Berta.

Hilla verfolgt den ersten Auschwitzprozess im Dezember 1963 im Frankfurter Rathaus. Setzt sich mit Schuld und Schicksalen im eigenen Dorf auseinander. Hört die Großmutter sagen: "Mir sin nit arisch, mir sind kattolisch." Hilla erkennt resigniert ihre Talentlosigkeit in Mathematik. Und sie entdeckt das Abenteuer Verliebtsein.

Ausgerechnet an den Industriellensohn Godehard van Keuken gerät sie, der ihr das Fünf-Gänge-Menü, Chansons von Charles Aznavour, die Fab Four nahebringt mit der nonchalanten Weltläufigkeit von Kindern reicher Eltern. Unerbittlich naht das Verhängnis: Godehard kommt zum Kaffeetrinken nach Dondorf: "Die Mutter hatte eine frische Dauerwelle. Vom Friseur und nicht von Hanni." Die Oma in Schwarz, aber zur Feier des Tages ohne Schürze ... Man ahnt, wie das Experiment ausgeht.

Es sind diese kleinen, anschaulichen Milieuskizzen, die den Roman lesenswert machen. Ulla Hahn hat im Leben sehr genau hingehört und hingeschaut. In solchen Szenen liegen Kerne deutscher Nachkriegs-Sozialisation, satt und reif wie in einer Nussschale.

Mit manchen Katastrophen des Erwachsenwerdens bleibt Hilla allein. In einer Zeit, als Selbsthilfegruppen noch nicht erfunden waren, half nur Verdrängung: "Wovon man nicht spricht, das ist nicht wahr", konstatiert Hilla. Eine der Wahrheiten dieses Romans ist der tiefe Vertrauensbruch mit den besorgten, aber auch hilflosen und einengenden Eltern, den junge Menschen in Kauf nehmen mussten für einen eigenen Lebensentwurf. Bei solchen "Außenseitern" behalf man sich am Niederrhein mit der vagen Diagnose: "Dat Kenk (das Kind) het et met de Nerve."

Die Lyrikerin Hahn, die in ihren Gedichten atemberaubend sicher mit Worten, Sinn, Witz und emotionaler Wucht spielt, geht in ihrem Roman erkennbar absichtsvoll zu Werk. Sie lässt ihre Ich-Erzählerin Hilla ihren Bildungs- und Entwicklungsweg schildern, aber durch Hilla müssen auch die anderen literarischen Figuren eine glaubwürdige Dichte erhalten. Das gelingt nur, wenn Hahn ihre Ich-Erzählerin immer wieder altersuntypisch vergrößert, von ihrem Milieu isoliert, sie erwachsener beobachten, urteilen, fühlen lässt.

Deshalb wirkt die Figur Hilla intellektueller und frühreifer, als ihr guttut. So ist die Stärke des Romans die Wiedererkennbarkeit der Provinz. Provinz war in den 60ern da, wo Dialekt gesprochen wurde, wo Neues und Althergebrachtes am heftigsten aufeinanderprallten, wo sich Schicksale entschieden, wo sich der Mut zur Anti-Haltung geformt hat. Da ist Hilla zu Hause, und da ist sie lebendig.

Ulla Hahn: Aufbruch. Deutsche Verlagsanstalt DVA, 583 Seiten, 24,95 Euro.