Am Sonnabend wäre der Künstler 80 Jahre alt geworden. Journalist Manfred Bissinger über seinen Freund Horst Janssen.

Hamburg. Als ich vor bald 50 Jahren von München kommend nach Hamburg zog, erwies sich diese wunderbare Stadt als kalt und eher abweisend; zu Beginn der 60er-Jahre schienen die Bürger von Harvestehude bis Blankenese im Gegensatz zu heute wenig an Neuankömmlingen interessiert. Sie ließen mich links liegen.

Das änderte sich schlagartig, als ich durch Zufall für einen Abend Kumpan eines mich vom ersten Moment an faszinierenden Künstlers wurde: Horst Janssen. Er hatte seine Studentenjahre hinter sich, eine erste Ausstellung bei Brockstedt in Hannover, aber er war noch lange nicht etabliert. Wir lernten uns am Tresen einer Bierkneipe in den Colonnaden kennen, der Korn floss reichlich. In seinem Schlepptau war Michel Hauptmann, der Jahre später schräg gegenüber eine Galerie eröffnen sollte.

Horst Janssen war so anders, intelligenter, verrückter als alle, die mir bis dahin in der Stadt meiner Träume begegnet waren. Er lebte und arbeitete bewusst und intensiv gegen die Konventionen des hanseatischen Bürgertums an; was allerdings nichts daran ändern konnte, dass er - obwohl ständig auf Provokationen aus - später deren heiß geliebter Vorzeigekünstler werden sollte.

Als wir uns in den Colonnaden trafen, war er mindestens so klamm wie ich als Volontär der dpa am Mittelweg. Wochen später, der Wirt wollte nicht mehr anschreiben, wir aber schoben Kohldampf, hatte der neue Freund eine Superidee, wie wir ohne großen finanziellen Aufwand zu einer warmen Mahlzeit kommen könnten.

Und das ging so: Wir suchten uns in Eimsbüttel eine Kneipe aus, Horst ging rein und bestellte - ich erinnere Grünkohl mit Pinkel und Kassler - dazu das obligatorische Glas Doppelkorn. Michel und ich warteten draußen vor der Tür, ordentlich angezogen, mit gestreiftem Hemd, Krawatte und Blazer. Nach etwa 30 Minuten dann betraten wir die Gaststätte, schauten vorsichtig nach allen Seiten, gingen auf den Kellner zu und flüsterten, den da hinten sitzenden Mann "verhaften" zu müssen. "Um Gottes willen, bitte kein Aufsehen", kam als Antwort, und sofort schritten wir zur Tat. Mit festem Griff auf die Oberarme, Michel rechts, ich links, und dann nichts wie raus mit ihm, natürlich ohne zu zahlen.

Und sogleich sollte das Spiel von vorne beginnen. Neue Kneipe, diesmal war ich dran. Der zweite Versuch, satt zu werden, endete im Chaos, denn Horst hatte sich geweigert, seine Gummistiefel durch normales Schuhwerk zu ersetzen, und auch sonst war er einer Amtsperson wenig ähnlich. Der Wirt schöpfte Verdacht, verlangte Ausweise und wir mussten Hals über Kopf fliehen. Das kostenfreie Essenfassen war damit fürs Erste erledigt, wir hatten unsere Unbefangenheit verloren.

Andererseits wurde Horst immer bekannter und so verbat sich diese Art der Nahrungsaufnahme auch aus diesem Grund. Es war die Zeit, als Janssens altmeisterliche Zeichenkunst schon so viel einspielte, dass er sich später nicht nur "seine Burg" in Blankenese leisten konnte, sondern auch genügend übrig blieb, um beim Italiener Dal' Fabro großzügig zu tafeln. Dass er die Rechnungen gerne mit der Bemalung von Tischdecken zahlte, war jedenfalls nicht seinem Geiz geschuldet. Janssen war einer der großzügigsten Menschen, denen ich je begegnete. Die Blankeneser Taxifahrer und Postboten wissen ein Lied davon zu singen.

Vor allem aber war Janssen ein begnadeter Handwerker, der mit allerlei altmodischen Gerätschaften werkelte, die schon Dürer zu Weltruhm geführt hatten: Farbstifte, Pinsel und Stichel. Er beugte sich keinen Trends, sein modernstes Hilfsmittel war die Polaroidkamera. Spritzpistolen, Videokameras oder gar Schweißbrenner, die seinerzeit gerade in Mode kamen, waren seiner filigranen Fantasie nicht angemessen. Zudem liebte er die kleinen Formate. Horst Janssen wirkte manches Mal aus der Zeit gefallen.

Wie nur bei ganz wenigen Künstlern sind von und über Horst Janssen Hunderte Bücher publiziert; er selbst liebte es, in zeichenfreien Stunden zu "wörtern", ja, tatsächlich war er mindestens ein so faszinierender Schriftsteller wie ein genialer Aquarellist und Porträtist.

Von Hamburg jedenfalls wollte ich, nachdem ich ihn getroffen hatte, nie mehr weg.