Der Regisseur Claus Guth steht unter Erwartungsdruck, doch anmerken lässt er sich nichts. Sonntag wird es für ihn ernst.

Hamburg. Donnerstagnachmittag, eine Stunde vor der Generalprobe. Der Saal ist noch leer, auf der Bühne kontrollieren Techniker letzte Dinge, die Beleuchter spielen mit ihren Lampen. Auftritt des Regisseurs Claus Guth. Schmale Gestalt in schwarzem Hemd über den Jeans, blaue Augen, Neuntagebart, das angegraute Haar geht schon leicht zurück. Der Mann kann bestimmt U-Bahn fahren, ohne dass ihn jemand für einen Künstler halten würde. Keine Allüre, keine Grandezza. Eher der Typ Englischlehrer mit dem Gesamtwerk von Bob Dylan zuhause. Ergeben lässt er sich von unserem Fotografen im Bühnenbild vom ersten Akt auf Siegfrieds Kinderbettchen setzen, zwischen ramponierten Teddybär und Schwert Nothung. Aus der Kulisse ruft jemand: "Alles wird gut! Gut mit th!"

Wagners "Ring des Nibelungen", Teil drei: Nach "Rheingold" und "Walküre" hofft der viel beschäftigte und sonst meist vom Erfolg verwöhnte Opernregisseur Claus Guth, 45, mit dem "Siegfried" nun endlich jene Begeisterung auszulösen, die seine Hamburger "Ring"-Deutung bisher nicht entfachen konnte. Er wirkt etwas übernächtigt, aber nach Muffensausen sieht das nicht aus, wenn einer so kurz vor der Generalprobe noch Zeit für ein paar Fragen hat.

Im "Ring", dieser monströsen, verschachtelten, spannenden, verstiegenen Privatmythologie, die Richard Wagner in stabreimverliebten Versen aus mittelalterlicher deutscher Sage und nordischen Mythen zusammengerührt hat, geht es auch um die Ausschließlichkeit von Liebe und Macht. Braucht der Regisseur nicht beides, um sein Ziel zu erreichen? "Ich will eigentlich immer beweisen - und da kann man alle hier im Haus fragen, dass ich das tue -, mein Ziel zu erreichen, ohne mit dem Thema der Macht zu spielen", sagt Guth. Diese Art Antwort ist typisch für ihn. Guth formuliert so, als sei Sprache ein Staudamm, mit dessen Hilfe man sich vor der Flut seiner Gedanken absichert. Was er durchlässt, soll in geordneten Bahnen fließen. Guth redet wie ein Technokrat. Aber er ist bestimmt kein Machtmensch. Über die Liebe schweigt er sich aus. Seine Verschlossenheit ist die der Auster. Gott weiß, wie viele Perlen der Weisheit, der Erkenntnis, der Bilderfindung er in sich birgt. Er zeigt sie in seiner Arbeit, nicht im Gespräch. Jedenfalls nicht im Gespräch mit Journalisten.

Die Geschichte des Siegfried hat ihn offenbar kalt erwischt. "Ich hätte das nie gedacht, aber für diese Figur empfinde ich die größte Sympathie in diesem Stück", gesteht Guth. "Ich dachte immer, ich würde mich mit der Figur unheimlich schwer tun. Aber ich finde sie jetzt zutiefst nachvollziehbar. Beim 'Siegfried' schaue ich live ins Kinderzimmer und kann dabei zusehen, wie und wodurch ein Mensch geprägt wird. Da ist viel Stoff geboten auch für den, der gerade selbst ein Kind erzieht. Aufwachsen, Erwachsenwerden - das wird einem im 'Siegfried' unglaublich reich vorgeführt."

Nun ist der "Siegfried" kein gewöhnliches Coming-of-age-Stück, sondern das Scharnier zwischen zwei gleichermaßen wuchtigen Tragödien. Manchmal geht es da auch lustig zu, insbesondere im ersten Akt. Aber das Personal - bis auf den Helden schon bekannt aus den vorangegangenen "Ring"-Teilen - hat schon ziemlich abgewirtschaftet: "Im Siegfried beschäftigen wir uns mit dem Verlust des Wissens. Wir erleben hier, dass die Konzepte der Weltordnungen alle nicht mehr greifen. Selbst die Urmutter Erda ist ratlos. Wotan hatte eigentlich in der 'Walküre' schon aufgeben wollen und hat sich zum Weitermachen nur mehr überreden lassen. Alberich war mal ein Macher, wartet jetzt aber schon seit 20 Jahren vor einer Höhle. Mime wird in Wahnvorstellungen verfolgt, weil er im Aufwachsen dieses pubertären Knaben Siegfried langsam irre wird. Alle wollen sie den Ring, aber anfangen kann keiner mehr etwas mit ihm, weil sie entweder zu alt oder verrückt geworden sind. Ich hab mit denen allen Mitleid. Die haben ihr Leben verkorkst, weil sie der permanenten Sehnsucht nach der Vermehrung von Besitz erlegen sind."

Klingt nach Götterdämmerung des Kapitalismus. Aber eine klare politische Deutung des "Rings" hat man von Guth bisher nicht bekommen. Ein derartiger Wurf liegt ihm auch fern: "Ich habe festgestellt, dass es eine große Sehnsucht nach Weltenerklärung gibt. Die Zeit verlangt offenbar wieder mal danach, dass der 'Ring' eine Art Bestandsaufnahme der Gegenwart liefert. Diese Sehnsucht begleitet alle 'Ring'-Inszenierungen, aber seit Patrice Chéreaus 'Jahrhundertring' in Bayreuth 1976 wird sie immer enttäuscht."

Man hat Guths bisherigen Hamburger "Ring"-Teilen vorgehalten, sie seien einfältig, flach, langweilig, vorhersehbar. Sein Alltime-Bühnenbildner Christian Schmidt entwirft ihm gern übergroße Möbel, zwischen denen die Figuren entsprechend zu Bonsaifiguren schrumpfen. Nach den teilweise sehr missvergnügten Kritiken von "Rheingold" und "Walküre" hat Guth überprüft, "ob ich zu schwammig bin und ob es etwas gibt, das ich noch mehr zuspitzen müsste." Er sei dann aber zu der Erkenntnis gekommen, dass man sich nicht mit zu simplen Erklärungsmodellen zufrieden geben dürfe. "Man kann nur versuchen, die richtigen Fragen zu stellen."

Durch den Lautsprecher im Zimmer der Pressedame der Oper erklingt die erste Aufforderung an das Orchester, sich zur Generalprobe bereit zu machen. Auch jetzt noch wirkt Claus Guth nicht nervös, er will nur nicht zu spät kommen. Vielleicht hält er auch seine Anspannung nur zurück hinter dem ernsten, fast undurchdringlichen Gesicht. Zwei Fragen lässt er noch zu. Erleichtert Wagners Musik ihm das Inszenieren? "Beim 'Ring' finde ich die Musik, bevor der Vorhang aufgeht, oft am überzeugendsten. Da hat sie diese unglaubliche visionäre Kraft. Wenn man beginnt, ein Bild zu finden, dann kann man das, was da vorher visionär ausgebreitet wurde, gar nicht mehr einlösen. Das ist erst mal ein Schreckmoment, den schon Wagner selbst erlebte. Insofern erzählt die Musik auf völlig anderen Ebenen als der Text. Und da ich als Regisseur mehr aus der Musik heraus arbeite als aus dem Text, gibt es immer wieder Zweifelsfälle, wo ich mich entscheiden muss, ob ich dem Text folge oder der Musik."

Wagner stellt die Zuhörer mit der Ausdauer seiner schieren Klangmacht im "Siegfried" auf eine Geduldsprobe der besonderen Art. Das Musikdrama dauert mit Pausen gut fünf Stunden. Was für Musik würde Wagner machen, wäre er unser Zeitgenosse? "Er wäre immer noch ein radikaler Erforscher", sagt Claus Guth, und endlich schwingt so etwas wie Leidenschaft und Erregung in seiner Stimme mit. "Wagner wäre heute einer der tonal fernsten, mutigsten, wildesten aller Komponisten. Wenn man genau hinhört, etwa bei Szenen mit Mime: das ist manchmal purer 'Wozzeck'. Einfach gigantisch, welche Schritte Wagner da raus aus der Tradition in die Zukunft hinein nimmt. Er ist da viel weiter als ein Verdi. Wenn man einzelne Takte rausnähme und dem Publikum vorspielen würde, empfänden die das als zeitgenössische Musik!"

Mit diesen Worten springt Claus Guth auf, die Jacke hatte er ohnehin anbehalten, und läuft zur Generalprobe zurück. Am Sonntag wird sich zeigen, ob seine verheißungsvolle Kurzbeschreibung des Werks sich auf der Bühne einlöst. "Der 'Siegfried'", sagt Guth, " ist unglaublich grotesk. Ein grotesker Kampf von senilen Leuten, die noch mal was rumreißen wollen."