Die Berliner Autorin erzählt in ihrem Roman von einer Frau, die nach einer Hirnblutung ins Leben zurückfindet.

Hamburg. Die siebenköpfige Jury des Deutschen Buchpreises war in diesem Jahr nicht zu beneiden. Wie seit 2005, immer am Abend vor dem Eröffnungstag der Frankfurter Buchmesse, sollte sie den besten Roman in deutscher Sprache - ausgewählt unter 154 begutachteten Büchern - bekannt geben. Doch vier Tage davor wurde die haushohe Favoritin Herta Müller für ihr Werk "Atemschaukel" mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Mehr geht nicht in der Bücherwelt, und in Frankfurt am Main war guter Rat teuer: Dem größten Literaturpreis hinterherkleckern - oder mit guten, am besten mit sehr guten Gründen ein anderes Buch küren und die Nobelpreisträgerin ungeehrt unter den fünf Beinahe-Gewinnern sitzen lassen?

Die Jury überraschte gestern Abend mit Kathrin Schmidt als Buchpreisträgerin. Die 1958 in Gotha (Thüringen) geborene und schon mehrfach preisgekrönte Autorin, die ausgebildete Psychologin ist und am DDR-Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig studierte, arbeitete nach der Wende am runden Tisch in Ost-Berlin mit. Mutter von fünf Kindern, lebt sie seit 1994 als freie Schriftstellerin in Berlin-Hellersdorf.

Ausgezeichnet wurde sie jetzt für ihren im Februar erschienenen 347-Seiten-Roman "Du stirbst nicht" (Kiepenheuer & Witsch) - die Geschichte einer Frau, die in einem Krankenhaus aufwacht, nicht sprechen und sich nicht bewegen kann, auch nicht erinnern - und die mühsam ihr eigenes Leben aus Bruchstücken heraus erforschen muss, um langsam die Kontrolle zurückzugewinnen. Eine Hirnblutung und die anschließende Operation haben ihrem Leben eine andere Richtung gegeben.

Anfangs eingeschlossen im eigenen Körper, hangelt sie sich an Gefühlsfetzen und anderen Puzzleteilchen entlang hin zu der Person, die sie einmal gewesen sein könnte. Zurückgeworfen auf ihre unkommunizierbaren Empfindungen, beobachtet und registriert die Hauptperson genau, was andere tun und wie sie das bewertet - früher tat sie das unbewusst, jetzt zunehmend schärfer.

Das Protokoll einer Selbstheilung basiert auf einer eigenen Erfahrung der Autorin, die 2002 eine Hirnblutung erlitt und überwand. "Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen", heißt es in der Begründung der Jury.

Der Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, Gottfried Honnefelder, entkam elegant der Zwickmühle zwischen Nobel- und Deutschem Buchpreis: Er gratulierte bei seiner Begrüßung der etwa 400 Gäste im Römer zunächst Herta Müller zum Nobelpreis. Die erntete daraufhin Standing Ovations - und gratulierte später Kathrin Schmidt ausgesprochen herzlich. "Auswahl", sagte Honnefelder, "ist nie wirklich gerecht, aber im Streit um die Qualität ist sie nicht nur unvermeidbar, sondern auch gerechtfertigt, solange sie an nichts anderem als am Maßstab der Qualität orientiert ist." Beim Deutschen Buchpreis gewinne vor allem "die Literatur selbst". Die Preisträgerin, die wie alle auf die Longlist (20 Romane) und dann auf die Shortlist (sechs Romane) gewählten Autoren vom Medienwirbel rund um das Auswahlverfahren profitierte, erhält 25 000 Euro. Ihre fünf Mitkandidaten je 2500 Euro.

Wilfried Weber, Hamburger in der Akademie Deutscher Buchpreis, befand schon vor der Entscheidung salomonisch: "Für mich als Buchhändler ist entscheidend, dass die deutsche Literatur durch den Deutschen Buchpreis eine Stärkung gegenüber den zahlreichen Übersetzungen erfahren hat. Der Preis hilft der deutschen Literatur in ihrer gesamten Breite - davon profitieren letztlich alle Autoren."

Ebenfalls vorab sagte Hoffmann-und-Campe-Geschäftsführer Günter Berg: "Ich bin der Überzeugung, dass der Buchpreis seine Funktion in diesem Jahr besonders gut erfüllt: nämlich einem unbekannten Autor eine Stimme zu geben." Und Hamburgs Literaturhaus-Chef Rainer Moritz kommentierte: "Eine mutige Entscheidung, dreht sich der Roman doch um das schwierige Thema der Identitätsfindung. Aber hochverdient."