“Theater muss sensationell sein“, war Peter Zadeks Anspruch, der Realist und Fantast zugleich war. Er wurde ihm in jeder Hinsicht gerecht.

Wer einmal eine seiner sinneraubenden, großen Inszenierungen gesehen hat, wird dieses Theatererlebnis wohl niemals vergessen. "Lulu", "Der Kirschgarten", "Hamlet" oder "Othello" zählen dazu. Aufführungen, die menschliche Wahrheiten zeigten, die man zuvor nie erfasst hatte, die ebenso unerhört wie ungestüm und umwerfend waren. Inszenierungen, die Peter Zadek in seiner mehr als 50-jährigen Karriere als Regisseur zu Recht den Ruf eingebracht haben, der bedeutendste, mutigste, innovativste, aufregendste und prägendste Bühnenkünstler des deutschen Nachkriegstheaters zu sein. Er war der Erfinder des Regietheaters, liebte Shakespeare und den Boulevard, hatte Lust an der Provokation und bekam den Titel "Abonnentenschreck". Gestern ist Peter Zadek im Alter von 83 Jahren in Hamburg gestorben.

Zadek wurde 1926 in Berlin geboren. Die jüdische Familie musste 1933 emigrieren, 1958 kam Peter Zadek nach Deutschland zurück. Mit 19 Jahren hatte er in England seine erste Theatertruppe gegründet. Eine Gruppe von Menschen, die als Theaterensemble zusammenarbeitet und herumzieht, blieb sein lebenslanger Theatertraum. Wie kein anderer Regisseur verstand er es, Schauspieler, Bühnenbildner und Dramaturgen um sich zu scharen, Menschen, die jahrzehntelang alles stehen und liegen ließen, wenn es darum ging, mit ihm zu arbeiten. Eva Mattes zählte zur Zadek-Truppe, Ilse Ritter, Ulrich Wildgruber, Hermann Lause, Angela Winkler, Susanne Lothar. Er hat Ulrich Tukur entdeckt - 1984 für "Ghetto" - und eigentlich mit allen gearbeitet, die einen anerkannten Namen tragen.

Dabei war er keinesfalls ein Guru oder ein Papa-Chef, der seine Lieben um sich scharte. Theaterfamilie, das war bei Zadek Arbeitsgemeinschaft, nicht Kumpanei. Er war kein Duz-Freund seiner Schauspieler, saß nicht mit ihnen herum. Er war der Chef. Ein dominanter Menschenverführer, ein eitler Bezirzer, ein mutiger Magier. "Theater muss sich an der Grenze zur Normenüberschreitung bewegen, sonst ist es langweilig. Um nur zu konstatieren, dass das Leben so ist, wie es ist, braucht man kein Theater. Die größte Chance fürs Theater liegt darin, etwas anderes zu erzählen", sagte er.

In England hatte er den Regisseursberuf auch dadurch erlernt, dass er alle zwei Wochen ein Stück inszenierte. Im Laufe seiner ruhmreichen Karriere hat er dann an den deutschsprachigen Theatern immer längere Probenzeiten gefordert. Das führte gelegentlich zu Krächen, oft genug aber auch zu herausragenden, berührenden Aufführungen. Warum ein Mensch liebte oder hasste, welche Leidenschafen ihn trieben, welche Abgründe er kannte, solche Dinge konnte man in seinen Aufführungen sehen und begreifen lernen. Zadek war kein Dramaturg, der jede Wendung einer Figur vorher durchdacht hatte. Zadek war ein wissender Erspürer, ein intelligenter Spieler, gleichzeitig Realist und Fantast. Er war ein großer Menschenbeobachter.

Peter Zadek war ein Regisseur, der kreatives Klima schuf. Die Schauspieler sollten sich öffnen, sich neu erfinden. Er schrieb ihnen nichts vor, plante nichts. "Am Anfang dachten die Schauspieler, ich sei verblödet, weil ich ihnen keine genauen Instruktionen gab", hat er einmal gesagt. Er war vor allem unverkrampft, aber auch selbstsicher, gelassen, überlegen. Und ebenso verliebt in die Verrücktheiten seiner Figuren wie in seine Schauspieler. "Mach doch mal", spornte er sie an. Und dann fand er es "toll", und das sprach er ganz näselnd aus, mit lang gezogenem Ton, ein wenig blasiert, wie ein englischer Dandy. Ja, auch davon hatte er was, der Mann, der gerne Schwarz trug und Schals - jahrzehntelang der Intellektuellen-Chic - und der früher auch mit einem Jaguar und dem Kennzeichen "PZ 1" herumgefahren war. "Erfolg interessiert mich nicht", sagte er gern und "auch Kunst interessiert mich nicht besonders", "spielt einfach nur für euch". Zadek war schon cool, als man das Wort nur in England kannte. Er selbst hielt sich für "gar nicht cool. Ich bin immer zu 100 Prozent engagiert". Zadeks "Othello" kam 1976 am Hamburger Schauspielhaus heraus und brachte dem zuvor schon in Ulm und Bremen mit bedeutenden Inszenierungen aufgefallenen Regisseur den wohl größten Schub seines Künstlerlebens. Der blitzeblickende, schwitzende und als Nuschler verschriene Uli Wildgruber tobte über die Bühne und war so schwarz angemalt, dass er auf alle, die mit ihm in Berührung kamen, abfärbte. Natürlich begriff man sofort, was der Umgang mit Schwarzen damals für weiße Menschen noch bedeutete. Und seine Desdemona jagte der vor Eifersucht rasende Othello minutenlang über die Bühne, bevor er sie erwürgte. Wohin dann mit der Leiche? Othello, wie von Sinnen, hängte die nackte Desdemona über eine Wäscheleine. Shakespeare mit Wäscheleine - in diesem Moment war das Regietheater geboren. Die Premiere endete tumultös morgens um zwei, das Publikum tobte. Zadek sagte später: "Das war sensationell. Theater muss sensationell sein."

Intendant Ivan Nagel, der Zadek damals engagiert hatte, erinnert sich:

"Die 'Othello'-Premiere hatte ich vorsorglich erst nach der Abo-Abendvorstellung um 22 Uhr angesetzt. Ich zog mich vorher zu Hause um, fuhr mit dem Taxi ins Schauspielhaus. Am Dammtorbahnhof hielten wir vor einer roten Ampel. Da schraubten vier junge Männer, die ebenfalls ins Theater fuhren, ihr Autofenster herunter und riefen zu mir: 'Jetzt fährt Nagel zu seiner Hinrichtung.'

Nach der Aufführung wurde 20 Minuten lang geklatscht und gebuht, getrampelt und gepfiffen. Am nächsten Morgen, Sonnabend vor Pfingsten, eröffnete Bürgermeister Hans-Ulrich Klose eine Tagung der Volksbühne. Ich saß in der dritten Reihe, als er mir cool ins Gesicht erklärte, ein Theater, das um 22 Uhr beginnt, richte sich gegen die arbeitende Bevölkerung und verdiene keine Zuschüsse. Dass vorher eine Vorstellung stattgefunden hatte, dass die 'Othello'-Premiere - offenbar mit lauter Arbeitslosen - ausverkauft war, erwähnte er nicht. Bei einem Empfang im Rathaus am selben Abend sah ich nur Rücken; mit hanseatischer Diskretion drehte sich jeder um, sobald ich in seine Nähe kam. Dienstag früh erschienen die überregionalen Kritiken, meist begeistert. Frau Weichmann (die Frau des ehemaligen Bürgermeisters Herbert Weichmann; d. Red.) rief mich im Büro an, und ihre nikotinraue Bassstimme war zentimeterdick mit Honig belegt: 'Wir wollen doch, lieber Herr Nagel, nur Ihr Bestes.' Ich durfte bleiben. 'Othello' gastierte von Belgrad bis Bergen in ganz Europa."

In den 70er-Jahren war Zadek Intendant in Bochum, hatte dort das Theater mit Revuen, Nachmittagsvorstellungen und Kooperationen mit Fußballveranstaltungen volksnah werden lassen. Tschechow und Ibsen inszenierte er, indem er sich den Texten vollkommen unterordnete. 1985 wurde Peter Zadek Intendant des Deutschen Schauspielhauses. "Lulu" inszenierte er hier, unfassbar aufregend, mit der jungen Susanne Lothar in der Titelrolle. Und "Andi", bei dem die Einstürzenden Neubauten so laut Musik machten, dass an die Zuschauer Ohrstöpsel verteilt wurden. "Es war keine glückhafte Zeit", sagte Zadek. "Das lag aber nicht am Haus, sondern an den Politikern."

Hamburg und das Schauspielhaus waren und blieben sein großer Lebensmittelpunkt, auch wenn er in den vergangenen 15 Jahren in Wien, Zürich, Paris und Berlin arbeitete und in Hamburg an den Kammerspielen und am St.-Pauli-Theater. Über seine Intendantenzeit in Hamburg hat Zadek gesagt: "Das Schauspielhaus hat wie alle bedeutenden Theater eine magische Anziehungskraft. Vielleicht auch eine magische Abstoßungskraft, denn wenn dieses Theater nur halb voll ist, will man sofort wieder raus. Das Schauspielhaus ist anders, weil Hamburg anders ist. Hamburg ist die Stadt, die mich am meisten interessiert hat, wo ich mich am wohlsten fühle, wo ich mich auch am meisten geärgert habe und wo am meisten passiert ist, was Theater angeht. Wenn man in Wien eine Komödie inszeniert, weiß man schon vorher, dass die Zuschauer sich totlachen werden. Das Hamburger Publikum muss man erst gewinnen, aber wenn man es gewonnen hat, dann bekommt man eine viel tiefere, auch kompliziertere Reaktion, und die interessiert mich dann auch mehr."

Peter Zadek wird dem deutschsprachigen Theater sehr fehlen. Er wird vor allem Hamburg sehr fehlen, der Stadt, in der er seit vielen Jahren mit seiner Lebensgefährtin Elisabeth Plessen wieder gewohnt hat. Nicht zuletzt Peter Zadeks Arbeit verdankt Hamburg seinen Ruf als Theaterstadt. Zadek liebte Hamburg: "Mein 'Othello' hat die Zuschauer natürlich vor den Kopf gestoßen. Ich habe die Leute hier ein paarmal vor den Kopf gestoßen, mit 'Lulu', 'Andi' und auch anderen Aufführungen. Die starke, oft lautstarke Reaktion auf diese Aufführungen ist doch etwas sehr Schönes. In der Stadt werden solche Provokationen nicht mit großem Tralala, sondern eher unterschwellig verarbeitet. Dafür bleibt aber etwas hängen. Ich habe immer mehr das Gefühl, ich hab mein Publikum in Hamburg, und das bleibt mein Publikum. Auch die, die mich nicht mögen."