Wie könnte das Kultbuch “Fänger im Roggen“ weitergehen? Ein Autor hat das literarische Nachspiel gewagt und damit einen Rechtsstreit ausgelöst. Ein Streifzug durch das Reich der Fortsetzungs-Romane von Joachim Mischke

New York. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und den ersten Bestseller. Bis zur Fortsetzung des Alten Testaments, das mit dieser für Autoren so erfreulichen Erkenntnis beginnt, sollte es allerdings mehr als ein Jahrtausend dauern. Der Erfolg mit dem Neuen Testament bei der Zielgruppe war dann aber auch entsprechend nachhaltig. Kein Wunder, bei der Glaubwürdigkeit und dem Charisma der Hauptpersonen. Entschiedenes weltweites Marketing erledigte den Rest, um himmlische Verkaufszahlen dauerhaft zu sichern.

Bei J. D. Salingers "Fänger im Roggen" ging es deutlich schneller mit der Weiterschreibung. Hier waren es gerade mal knapp sechs Jahrzehnte, bevor der Bestseller, nach wie vor ein Klassiker der Pubertätsüberwindungsliteratur, ein literarisches Nachspiel bekam. Allerdings ein vom Erstlings-Autor gänzlich unerwünschtes.

Aus dem jungen Holden Caulfield, der sich 1951 auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn des Lebens durch die Straßen von New York treiben ließ und dabei gern und saftig fluchte, wurde ein schrulliger Rentner, der jetzt nur noch "Mr. C" heißt und auf seine alten Tage als 76-Jähriger aus einem Seniorenheim ausbüxt, um eine neue Kontrollrunde durch den ziemlich gleichen New Yorker Roggen zu drehen.

Eigentlich war geplant, dass der Roman "60 Years Later: Coming Through The Rye" in diesen Tagen in den USA erscheint. Würde er wohl auch, wenn der mittlerweile 90 Jahre alte, in New Hampshire lebende Salinger in Sachen Copyright nicht so ein berüchtigt harter Knochen wäre. Seit Jahrzehnten schon verklagt der Literatur-Eremit alles und jeden beim Hauch eines Annäherungsversuchs an seinen Nimbus des Einzigartigen. Biografieversuche wurden mit schöner Regelmäßigkeit weggebissen. Salinger hat seine Anwälte angeblich einmal sogar eine Internetseite aus dem Netz klagen lassen, nur weil dort eine Stelle aus dem "Fänger" zitiert wurde.

Eine New Yorker Richterin hat gerade entschieden, dass die unerlaubt recycelte Hauptfigur nichts eigenständig Neues, sondern ein Porträt eines alten Bekannten sei, und daher urheberrechtlich geschützt. Sie will jetzt etwa eine Woche lang darüber nachdenken, wie es weitergehen soll und ob es überhaupt weitergehen darf. Bessere Vorab-Reklame kann sich ein junger, blonder Schwede namens Fredrik Colting kaum wünschen. Unter dem wenig einfallsreichen Pseudonym J.D. California (angebliches Geburtsdatum: der 1. April, kein Witz) hat er diese Geschichte verfasst und tat anschließend sehr blauäugig.

Plagiat? Wieso Plagiat? "Es sind doch nur Worte", wurde California zitiert. Ist doch nur eine Geschichte, eine ganz andere natürlich. Auf die sei er gekommen, als er den "Fänger" in einer zerfledderten Taschenbuchversion in Kambodscha in die Hände bekommen habe. Ein Kompliment an Salinger wollte er geschrieben haben, an den großen Unbekannten, der seit Jahrzehnten keine Zeile mehr veröffentlich hat. Klar doch. Bei geschätzten 250 000 Exemplaren, die Salingers Erstling seit Jahrzehnten Jahr für Jahr verkauft, an ein Stück vom Erlös-Kuchen zu denken, das kann nur geldgierigen Kleingeistern einfallen.

Fatalerweise fällt es meistens wirklich nur geldgierigen Kleingeistern ein, sich an großer Literatur zu vergreifen - und das seit Jahrhunderten. Seit Leser mit einem Stoßseufzer der Enttäuschung eine unwiderruflich letzte Romanseite gelesen haben, gibt es den Wunsch nach dem Danach. Die Sehnsucht nach dem Mehr. Es wird "beim Happy End im Film jewöhnlich abjeblendt", kalauerte Tucholsky dazu. Licht in dieses Dunkel zu bringen übt einen enormen Reiz aus. Niemand würde ernsthaft auf die Idee kommen, der Mona Lisa ein paar Damen aus der Nachbarschaft an den Rand des Bildes zu malen. Bei Literatur gibt es solche Bedenken kaum. Papier ist geduldig.

Besonders flott beim Nachschreiben war der Theologe Johann F. W. Pustkuchen, der 1821 mit seinem Opus "Wilhelm Meisters Wanderjahre" sogar schon fertig war, bevor Goethe selbst den letzten Band seiner "Wilhelm Meisters Lehrjahre" vorlegte. Damals sorgte der anfangs anonyme Text für viel Geraune in den literarischen Salons. Der Dichterfürst war alles andere als amüsiert über den erfolgreichen Imitator und Widersacher.

Die "Schatzinsel" sollte sich für Howden D. Smith als Goldgrube erweisen, als er 1924 in "Porto Bello Gold" erzählte, wie die entwendeten Wertsachen auf dem tropischen Eiland landeten. Aber erinnert sich noch jemand an dieses Buch oder doch nur an den Vorläufer von Robert L. Stevenson? Na also! Eine der seltenen Ausnahmen von der Nulpen-Regel ist der Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass, der in seinem 1986 erschienenen Roman "Die Rättin" dem Oskarchen aus der eigenen "Blechtrommel" von 1959 zu einem Comeback in fortgeschrittenem Alter verhalf.

Man sieht: Die Geschichte der auf das schnelle Geld schielenden Fortsetzungsromane ist vor allem eine Geschichte voller Pleiten, Pech und Pfuscher. Je bekannter das Original, desto größer das Risiko, dass sich früher oder später ein Verlagsmanager nach einem Blick ins Klassiker-Regal ans Köpfchen fasst und einen Lektor seiner Wahl fragt: "Könnten wir nicht eigentlich mal ...?" Dann sucht man einen Autor, der außer seinem unbekannten Namen nichts zu verlieren hat, bewirft ihn demonstrativ mit einem monströsen Vorschuss und schmeißt zeitgleich die Werbemaschinerie an. Ab diesem Zeitpunkt gibt es zwei Varianten: Entweder melden sich die Erben zu Wort, um zu protestieren. Dann wird gestritten und gezahlt, bis an dieser Front wieder Ruhe ist. Oder der literarische Trittbrettfahrer erscheint tatsächlich auf dem Markt, um nach kurzem medialem Aufflackern wieder vom Schleier verdienten Vergessens bedeckt zu werden. Abkassiert ist im Idealfall ja, mehr sollte nicht sein. Die Idee, dass ein Autor seinem Roman ja durchaus selbst eine Fortsetzung geschrieben hätte, wenn es so hätte sein sollen, wird dabei chronisch ignoriert. Salinger hatte dazu schon vor etlichen Jahren gesagt: "Es gibt nicht mehr von Holden. Lesen Sie das Buch doch noch einmal, da steht alles drin. Holden ist nur ein Moment geronnener Zeit."

In den letzten Jahren gab es mehrere formschön gescheiterte Versuche, diese geronnene Zeit in fröhlich sprudelnde Einnahmequellen zu verwandeln. Bei "Rhett Butler's People" hoffte ein gewisser Donald McCaig auf lukrativen Rückenwind durch das Original "Vom Winde verweht". Seine Fortsetzung war sogar autorisiert. Besser wurde sie dadurch nicht. Wo Rhett draufsteht, darf Scarlett natürlich nicht fehlen. Also schrieb Alexandra Ripley den Roman "Scarlett".

Da es ja die großen, schmachtdampfenden Liebespaare sind, die die Herzen literaturaffiner Frauen mächtig pochen lassen, stehen diese tragischen Gestalten ganz oben auf der Bestellliste von Verlagen und Literatur-Agenten. Auch im Osten gab's in dieser Hinsicht Neues: "Doktor Schiwago" ging nach dem Ableben des Titelmediziners notgedrungen in der Folgegeneration weiter. In "Laras Tochter" verliebte sich ebendiese während des Spanischen Bürgerkriegs in Schiwagos Sohn. Hach. Großes Hach. Erst recht, weil sich damit der Autor, ein britischer Rechtsanwalt namens Alexander Mollin, 1999 eine Klage einhandelte, die den deutschen Verleger dazu zwang, das Buch nicht mehr zu vertreiben. Schadenersatz war damals auch noch fällig.

Und wer richtig Pech hat und sich posthum nicht mehr wehren kann, wurde gleich mehrfach verlängert. Emily Brontes "Sturmhöhe" erlitt dieses undankbare Schicksal multipler Leichenschändung.

Besonders abstrus sind Bücher als Fortsetzung eines Films. "Für immer Casablanca" fiel 1998 in diese unselige Kategorie. "Für immer vergessen" war sein Schicksal. Obwohl der Amerikaner Michael Walsh damals mit 170 000 Vorbestellungen in Deutschland mehr Interesse verbuchen konnte als jeder andere Roman, wurde daraus nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft von Buch und Lesermassen. Die Geschichte spielte in Prag, wo Rick und Ilsa in ein Attentat auf die Nazi-Größe Heydrich verwickelt wurden. Die Endstation dieser Geschichte ist, o Wunder, Casablanca. Der krachende Flop war verdient.

Obwohl also schon vieles unter einer Verlängerung leiden musste, bietet sich immer noch eine Reihe erfolgreicher Bücher an, die man durch Fortsetzungsromane wieder zu schätzen lernen wüsste. Nach unten sind der Fantasie schlechter Autoren dabei kaum Grenzen gesetzt. Aus Thomas Manns "Buddenbrooks" könnte man "Tonis Töchter" destillieren, eine 1200-Seiten-Weltkriegsgeschichte über Verarmung und Wirtschaftswunder. Oder "Die Buddelbrooks", über eine geldgierige Bau-Dynastie, die vor den Toren Lübecks eine Giftmülldeponie anlegt. Als weitere schöne Neu-Auflagen denkbar sind "Die Revision" als juristisch konsequente Fortsetzung von Kafkas "Prozess"; "Mamita", Nabokovs Nymphchen als in die Wechseljahre gekommene verzweifelte Hausfrau; Patrick Süskind, Autor von "Das Parfum", könnte über "Das Deo" die Nase rümpfen. Orwells Erben könnten "2034" bekämpfen.

Nur ein Bestseller gilt als so sakrosankt, dass sich jede Art von Themen-Aufguss verbietet: die Bibel. Auf einer Verlängerung "Testament 3.0" läge garantiert kein Segen.