100 Künstler aus Leipzig besuchen das Gängeviertel und präsentieren ihre Arbeiten bis zum 9. Juni in 19 Ausstellungen in Hamburg.

Hamburg. Dass der Auftakt in einem Sakralraum stattfindet, hat nichts mit Kirchenasyl zu tun. Schutzräume in diesem drastischen Sinne benötigen die rund 100 Künstler nicht, die ab dem Pfingstwochenende bis zum 9. Juni in Hamburg gastieren. Gegen Aufmerksamkeit und Neugier auf das, was sie umtreibt, hätten sie allerdings nichts.

Sie kommen aus Leipzig, sind hier und da und dort in Off-Kunsträumen und -Galerien der Hansestadt präsent, im Frappant, im Hinterconti, im Künstlerhaus Vorwerkstift, in der Galerie Genscher oder bei Feinkunst Krüger.

Dass sie überhaupt mit ihren Arbeiten vor Ort sind, hat eine ziemlich kuriose Vorgeschichte: Im Herbst 2009 reisten erstmals Vertreter der Gängeviertel-Besetzer nach Leipzig; damals hatte ihnen der Baubürgermeister eine neue Heimat angeboten, falls sie - bildlich gesprochen - von der Situation für Künstler in Hamburg die Nase voll hätten. Es kam bekanntlich anders. Man fuhr zwar hin, um sich umzusehen, blieb aber nicht kollektiv dort. Die Krisensituation um das Gängeviertel entspannte sich, die west-östlichen Freundschaften vertieften sich. Man tickte offensichtlich synchron, teilte die gleichen Ansichten, hatte ähnliche Probleme.

Irgendwann entstand die Idee eines "Betriebsausflugs", eines Wandertags mit üppigem Ausstellungsprogramm, sie wurde Ende Mai mit 30 Ausstellungen von 20 Hamburger Gästen realisiert, in einer Stadt, in der es Leerstände gibt, von denen man hier, wo solche Räume rar sind und teuer, nur träumen kann. Den Strom in diesen Immobilien, die ja eben nicht voll funktionsfähig sind, spendierten die Stadtwerke. So kann's gehen.

Nun also folgt, nur wenige Wochen später, die Revanche. Um die 100 Künstler, 19 Ausstellungen, allein sechs davon im Gängeviertel-Areal. Eine klare Ansage, wo die Wurzeln dieser Idee entstanden.

Wie es sich für solche Aktionen gehört, ist vieles eine Mischung aus spontanem Loslegen und unvermeidbarer Selbstausbeutung. Anreisen in Kleingruppen, Übernachtungen bei den Bekannten, die man gemacht hat. Der Fonds Soziokultur e.V. beteiligte sich an den Unkosten, die Hamburgische Kulturstiftung, die Kulturbehörde und andere Gönner ebenso. Der Rest fand sich dann, wie immer, irgendwie und vor allem auf den letzten Drücker.

Bei so viel Euphorie und Schaffensdrang blieb in Einzelfällen noch nicht mal die Zeit, um sich Gedanken über Namen für die Kunstwerke zu machen. Die Leipzigerin Frenzy Höhne, die mit der Hamburgerin Gesa Lange - eine Fortsetzung ihrer Doppel-Ausstellung in Leipzig - Installationen im Kapellenraum der Kirchentags-Geschäftsstelle neben dem Mahnmal St. Nikolai zeigt, liefert einige Stunden nach der Eröffnungs-Pressekonferenz den Titel einer quasi ofenwarmen Arbeit telefonisch nach. "Starten" soll es heißen. Das passt ins Bild. Erstmal machen, der Rest findet sich schon.

Eine Leistungsschau im klassischen Sinne sollen die Ausstellungen dann auch nicht sein, sagt Gängeviertel-Sprecherin Christine Ebeling. Mehr eine Präsentationsplattform für Gleichgesinnte, nebenbei nicht ganz einfach zu organisieren. Im Viertel geht das Leben ja auch noch weiter. Der anstehende Sanierungsprozess will geplant sein, das Konzept für die Fabrik soll bis September stehen. Irgendwas ist immer.

Seit die Würfel fielen und die historischen Gebäude im Gängeviertel eben nicht, gab es etliche Reaktionen aus dem Ausland auf diese Leistung und auf das Umdenken der Politiker im Rathaus. Gängeviertler wurden zu Ausstellungen oder Vorträgen nach Lissabon und Paris eingeladen, nach Shanghai, Genf und Venezuela. Besuchergruppen melden sich an, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass es das Gängeviertel gibt und was es ist. Stadtmarketing der deutlich anderen Art, das genaue Gegenstück zur offiziellen Variante ohne Ecken und Kanten.

Ein Gängeviertler der ersten, heißen Phasen ist der Künstler Mark Matthes, er nahm die Einladung aus Leipzig vor anderthalb Jahren an und kann nun aus eigener Erfahrung Vergleiche anstellen: "Leipzig ist anders, die Ausstellungsbedingungen dort sind besser. Wenn man viel Platz zum Arbeiten braucht, wird's schwierig in Hamburg."

Platz ist auch eher Mangelware im Gängeviertel selbst, wo wegen der historischen Strukturen eher kleinteilig gearbeitet wird. 120 bis 150 Künstler sind dort derzeit aktiv, das Interesse an einem Produktiv-Plätzchen lässt auch nicht nach. "Wir sehen schon zu, dass wir keinen Leerstand produzieren", sagt Ebeling. Doch obwohl das kleine, unbeugsame Quartier nun mal nicht größer ist, als es sich anfangs fühlte, eines haben die Aktivisten dort im Laufe der vergangenen Monate gemerkt: "Das Gängeviertel als Idee ist viel größer geworden."

"Betriebsausflug Leipzig - Hamburg" 25.5.-9.6. Informationen: www.betriebsausflug.cc