Eine 15-Jährige aus Stellingen ist möglicherweise gegen ihren Willen verheiratet worden. Staatsanwaltschaft ermittelt.

Hamburg. Eine 15 Jahre alte Gymnasiastin aus Stellingen - versprochen, verschleppt, verheiratet? Ein Mädchen aus der Mitte der Stadt, gezwungen zum Geschlechtsverkehr mit einem Mann, den die Eltern für es ausgesucht haben? Es erscheint undenkbar, und doch ist es nicht ausgeschlossen. Wenn es stimmt, was Ermittler vermuten, dann ist der 15 Jahre alten Fatima genau das passiert. Und einiges spricht dafür, dass das Mädchen sich in sein Schicksal gefügt hat. "In ihrer Vernehmung gab sie an, bei der Familie in Berlin-Spandau bleiben zu wollen", heißt es in einer Pressemitteilung der Polizei von Dienstagnachmittag. Nur wenige Tage zuvor hatte Fatima einen Lehrer und einen Freund in Mails und Kurzmitteilungen um Hilfe angefleht. Sie sei in die Hauptstadt verschleppt worden, solle dort mit einem ihr unbekannten 19-Jährigen verheiratet werden. Sie wolle nicht. Sie wurde von der Polizei und dem Kinder- und Jugendnotdienst nach Hamburg gebracht und - offenbar - von den Eltern wieder zurück nach Berlin.

Dann gab es ein großes Fest in jenem Haus, in dem Fatima sich aufhielt. Aufhalten musste? Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen. Ob Fatimas Fall zu einem der jährlich rund 1000 Fälle von Zwangsehe in Deutschland wird, ist nicht gewiss. Gewiss ist jedoch, dass hinter jedem dieser Fälle eine Frau, fast immer mit Migrationshintergrund, steht, die in eine Hochzeitsnacht und ein Leben mit einem Mann, der sie zu besitzen beansprucht, gezwungen wird. Versprochen, verschleppt, verheiratet.

Der Hilferuf der Gymnasiastin aus Stellingen kam am 26. April auf dem Rechner eines Lehrers an, der Fatima unterrichtete. "Meine Eltern wollen mich zu einer Ehe mit einem Mann zwingen, den ich nicht kenne", teilte sie dem Lehrer sinngemäß mit. Dieser ging zum Polizeikommissariat 27 an der Koppelstraße und zeigte den Beamten die Post, die er bekommen hatte.

Die Kripo nahm sich des Falles an und leitete Ermittlungen wegen des Verdachts der Verletzung der Sorgfaltspflicht gegen die Eltern ein. Einen Tag später erhielt ein Mitschüler des Mädchens mehrere SMS. "Ich bin bei fremden Menschen." "Man hat mich verschleppt. Ich bin in Berlin." Die Hamburger baten ihre Berliner Kollegen um Mithilfe. In Spandau orteten die Berliner Beamten Fatima. Ein Einzelhaus, keine Villa, aber geräumig. Die Beamten präsentierten einen Durchsuchungsbeschluss.

Fatima beeilte sich, den Beamten zu berichten, dass ihr nichts angetan worden sei. Man behandle sie gut. Aber in die Ehe mit Nebojsa R., die ihre Eltern hier arrangiert hätten, wolle sie nicht einwilligen. Die Polizisten nahmen Fatima mit. Sie schlief in der Obhut des Kinder- und Jugendnotdienstes. In Hamburg entschied man, das Kind zurück an die Eltern zu geben. Fatima sagte, dass auch sie das wolle. Hoffte sie, ihre Eltern hätten ihren Plan aufgegeben? Hatte sie Angst?

Es ist nicht auszuschließen, dass der Entschluss, Fatima direkt wieder zu den Eltern zu bringen, die Sache für sie nur noch schlimmer gemacht hat. Sicher ist es aber gewiss nicht. Doch vermutlich wurde sie auf direktem Weg zurück nach Berlin gefahren. Bei dortigen Medien gingen entsprechende Hinweise ein. Reporter der "BZ" beobachteten, dass zahlreiche Speisen und Getränke in das Haus getragen wurden - und sich Gäste einfanden. Die Zwangseheschließung sei doch vollzogen, hieß es. Die Eltern von Nebojsa R. sagten der Zeitung hingegen: "Wir haben nur ein Familienfest gefeiert. Und Fatimas Umzug nach Berlin. Das Mädchen möchte hier bei uns mit unserem Sohn leben." Laut "BZ" sei angeblich ein Brautgeld gezahlt worden.

Die Hamburger Polizei bat Fatima, Dienstagnachmittag um 14.30 Uhr auf die Wache an der Koppelstraße zu kommen. Um 15.30 erschien sie mit ihrer Mutter. "Ich möchte meine Schulausbildung in Berlin weitermachen", sagte das Mädchen. "Ich bin nicht das Opfer einer Straftat. Zu der Mail an meinen Lehrer und die SMS an den Freund sage ich: nichts." Ihre Verspätung begründete sie damit, dass sie doch eben erst zu Hause angekommen sei.

Knapp eine Stunde dauerte die Vernehmung in der Polizeistation, dann verließen Polizisten mit Mutter und Tochter das Kommissariat über einen Hinterausgang. In einem abgedunkelten Mannschaftswagen der Polizei, und damit unerreichbar für Mikrofone und Kameras, wurden sie vom Hof gefahren. 2,4 Kilometer sind es von der Wache zum Hochhaus, in dem die 15-Jährige bis zum Wochenende lebte. Ein einziges Kommen und Gehen herrscht vor dem grauen Häuserblock am Bahnhof Langenhorn. Mehr als 180 Familien wohnen hier, viele alte Menschen, viele Migranten.

Gleich zwei enge Aufzüge bringen die Menschen in jedem der drei Aufgänge in ihre Wohnungen. Der eine hält an allen geraden Etagen, der andere an allen ungeraden. In einer Wohnung am Anfang eines der hier typischen Laubengänge ist Fatima aufgewachsen. 15 Jahre ist sie alt und soll doch viel jünger wirken, zarter. Fatima ist nicht unbekannt, doch kaum jemand kennt sie genauer. Auch nicht die direkten Nachbarn. Die Familie lebe sehr zurückgezogen, sagt einer der Bewohner, der den gläsernen Empfang besetzt. Seit die Baugenossenschaft Anwohner einsetzt, um zu kontrollieren, wer hier ein und aus geht, sei die Kriminalität stark zurückgegangen.

Fatima und ihre Eltern, serbische Sinti und Roma, seien sehr freundlich zu den Nachbarn, aber sonst sehr reserviert. Zwei ältere Brüder soll das Mädchen haben. Regelmäßig führe es einen Hund spazieren. Richtige Freundinnen habe Fatima im Block keine, sagt ein Mädchen. Ab und zu sei sie, die sich gern schminke, mit einem Mädchen gesehen worden, das aber nicht aus dem Viertel stamme. Die Eltern wollen mit Abendblatt-Reportern nicht reden. Die Wohnungstür bleibt zu. Nichts von dem, was in den Zeitungen stehe, sei wahr, sagen sie einem TV-Team.

Die Frauen-Hilfsorganisation Terre des Femmes geht davon aus, dass in der Bundesrepublik jedes Jahr weit mehr als 1000 Mädchen aus Migrantenfamilien in eine Ehe gezwungen werden. "Das ist nicht ausschließlich ein Problem islamischer Familien", betont Mitarbeiterin Myria Böhmecke. Auch Familien, die vom Balkan oder aus Indien eingewandert seien, handelten so. "Grund ist oft ein sehr traditionelles und patriarchalisch geprägtes Familienbewusstsein."

Die Gesetze in Deutschland bezüglich des Heiratens sind im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 1303, klar formuliert: Eine Ehe soll nicht vor der Volljährigkeit, also dem 18. Geburtstag, geschlossen werden. Wer zwischen 16 und 18 Jahren alt ist, könne nur mit Zustimmung eines Familiengerichts standesamtlich heiraten, erläutert die Berliner Familienrechtsanwältin Eva Großmann. Der Partner müsse dann aber volljährig sein, auch die Zustimmung der Eltern werde eingeholt. Wer aber jünger als 16 Jahre alt ist, kann in Deutschland nicht standesamtlich heiraten. Eine Ehe nach religiösem Ritus ist zwar möglich, bietet dann aber keine staatliche Rechtssicherheit.

Der Wissenschaftler Werner Schiffbauer, Professor für Vergleichende Kultur- und Sozial-Anthropologie, sieht Zwangsehen in Deutschland indes als Ausnahme: "Es gibt einen großen Spielraum zwischen Zwangsehen und arrangierten Ehen, die Bindungen zur Verwandtschaft vertiefen", sagt er. Die Helferinnen von Terre des Femmes sehen die Lage mit ihrer Erfahrung dramatischer. 378 Fälle von Zwangsheirat seien 2007 allein in Berlin gezählt worden, sagt Böhmecke. Darüber hinaus gibt es wohl eine hohe Dunkelziffer. Dass mehr Fälle öffentlich werden als früher, liege aber auch an den Hilfskampagnen für junge Mädchen, vor allem im Internet. Doch: "Wenn wirklich eine Zwangsheirat droht, bleibt einem jungen Mädchen fast nur die Möglichkeit, seine Familie zu verlassen", so Böhmecke. Doch welcher Teenie ist mit 16 oder 17 bereit, Eltern, Geschwister und Freunde gegen einen Platz im Jugendhaus einer anderen Stadt zu tauschen?

In Hamburg sind die behördlichen Beratungsstellen i.bera und LALE Ansprechpartner für Mädchen, die sich vor Zwangsheirat fürchten. Iris Jäger, Geschäftsführerin des Verbunds für interkulturelle Kommunikation und Bildung als Trägerverein der interkulturellen Beratungsstelle i.bera, sagt: "In den meisten Schulen gibt es außerdem Beratungslehrer, über die Kinder und Jugendliche Kontakt zu uns aufnehmen können." Im Januar eröffnete zudem die Einrichtung "Zuflucht" für von Zwangsheirat bedrohte oder betroffene Mädchen und junge Frauen, die das Elternhaus verlassen möchten. Der Standort des Hauses ist geheim. Die "Zuflucht" bietet den Mädchen zunächst Schutz. Dort sollen aber auch Zukunftsperspektiven entwickelt werden. Fatima hat offenbar bislang keine der Anlaufstellen besucht. Ohne die SMS und die Mail an den Lehrer wäre ihr Fall, so er denn einer ist, unter dem Begriff Dunkelziffer abzulegen gewesen. Bei der Hamburger Kripo gilt es als zumindest fraglich, ob die Aussage des Mädchens bei der Polizei ohne Druck von außen zustande gekommen ist.