Zug kommt im letzten Moment zum Stehen. 29-Jähriger erleidet schwerste Halswirbelverletzungen. Ein Tatbeteiligter hat sich bereits gestellt.

St. Georg. Im Endeffekt muss man wohl von Glück sprechen. Es hätte nicht viel gefehlt, und Michael T. hätte den Sonnabend nicht überlebt. Beinahe wäre der 29-Jährige im Hauptbahnhof von einer S-Bahn überrollt worden, nachdem ihn ein Jugendlicher in der Nacht zum Sonnabend auf die Gleise geschubst hatte. Der Student der Volkswirtschaft hat durch den Sturz schwerste Halswirbelverletzungen erlitten - aber die befürchtete Querschnittslähmung ist nicht eingetreten. Inzwischen haben die Ärzte in der Asklepios-Klinik St. Georg Entwarnung gegeben. Michael T. zum Abendblatt: "Ich bin noch immer total geschockt."

Der 29-Jährige hat nur verschwommene Erinnerungen an die Tat. Er hatte auf dem Kiez eine Kunstausstellung besucht und wollte nach Hause. Gegen 4.30 Uhr nahm er an der Reeperbahn eine S-Bahn Richtung Hauptbahnhof. In dem Zug geriet er gleich mit einer Gruppe von fünf bis sieben Jugendlichen in einen Streit, am Ende gab es eine kleine Rangelei. Worum es bei der Auseinandersetzung ging, daran erinnert er sich Stunden nach der Attacke nicht mehr. "Ich weiß nur noch, dass die Stimmung allgemein sehr aufgeheizt war", sagt er.

Nach der zehnminütigen Fahrt verließen am Hauptbahnhof (Gleis 4) der 29-Jährige und die Jugendlichen nacheinander die Bahn. "Plötzlich schlug mir einer von hinten auf den Kopf", sagt Michael T. Durch den Faustschlag sei er auf die Gleise gestürzt - genau in diesem Moment fuhr eine S-Bahn ein. Es ist wohl der Umsicht der Augenzeugen geschuldet, die den Fahrzeugführer mit Handzeichen auf die Situation aufmerksam machten, dass die S-Bahn im letzten Augenblick vor Michael T. zum Stehen kam, möglicherweise berührte sie ihn noch leicht. Der Zugführer erlitt einen Schock. Michael T. hat keine Ahnung, wie knapp er mit dem Leben davongekommen ist. Er hat den tonnenschweren, auf ihn zurollenden Zug nicht einmal wahrgenommen. "Ich erinnere mich nur noch daran, dass mich ein Mann im Arm hielt und beruhigend auf mich einsprach - dass alles gut werden wird. Dann wurde mir schwarz vor Augen."

Mit einer Kopfplatzwunde, einer Gehirnerschütterung und schwersten Halswirbelverletzungen wurde der 29-Jährige ins Krankenhaus eingeliefert. "Es sieht so aus, als würde ich um eine Operation herumkommen", sagte Michael T. gestern mit schwacher Stimme.

Die Polizei fahndet jetzt nach den flüchtigen Jugendlichen, die in der S-Bahn und während der Tat von Überwachungskameras gefilmt worden waren. Ein 19-Jähriger aus Wilhelmsburg, der an der Auseinandersetzung im Zug, nicht aber an der Tat beteiligt gewesen sein will, habe sich inzwischen gemeldet, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün. Gegen den noch unbekannten Haupttäter ermittelt die Mordkommission wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Die Fahnder bitten Zeugen, sich unter Telefon 428 65 67 89 zu melden.

Es war bei Weitem nicht die erste hinterhältige Attacke auf Fahrgäste der S- oder U-Bahn in Hamburg. Mitte Juni hatte ein 21-Jähriger einen ein Jahr jüngeren Mann am S-Bahnhof Veddel ins Gleisbett geschubst. Nach einem öffentlichen Fahndungsaufruf stellte er sich der Polizei. Am 12. Mai 2010 prügelten zwei 20-Jährige auf dem U-Bahnhof Hoheluftbrücke einen 16-Jährigen nach einem nichtigen Streit auf die Gleise. Glücklicherweise konnte der Jugendliche aus eigener Kraft auf den Bahnsteig klettern. 2008 hatte ein betrunkener Fahrgast eine 22-jährige Frau grundlos auf die Gleise geschubst. Noch bevor die nächste S-Bahn einfuhr, rettete sie ein anderer Fahrgast.

Häufig sind es allerdings Betrunkene, die ins Gleisbett stürzen und so ihr Leben riskieren. Am Sonnabend, gegen 7.50 Uhr, fiel ein 23-Jähriger am Berliner Tor auf die Gleise, nachdem er zu dicht an der Bahnsteigkante entlanggetorkelt war. Andere Reisende zogen den Mann zurück auf den Bahnsteig. Der alkoholisierte 23-Jährige kam mit Kopfverletzungen in die Klinik. "Oft kommt es durch leichtsinniges Verhalten im Bahnbereich zu schweren Unfällen. Dabei gefährden sich die Personen durch ihr Handeln in vielen Fällen nicht nur selbst, sondern auch Zugreisende oder Helfer. Die Stromschienen im Hamburger S-Bahn-Bereich führen 1200 Volt Gleichstrom; eine Berührung ist lebensgefährlich", sagte Bundespolizeisprecher Rüdiger Carstens.