Der angeklagte Elias A. erstach den 19 Jahre alten Schüler Mel D. in der S-Bahn-Station Jungfernstieg. Ihm drohen zehn Jahren Jugendstrafe.

Neustadt. Bereitschaftspolizisten säumen den Bereich vor dem Gerichtssaal 237, sie stehen auch unten am Eingang des Strafjustizgebäudes, davor parken drei Mannschaftswagen. Was dieser martialische Auftritt soll, warum hier eine ganze Armada in Uniform herumstiefeln muss, wo hinter der schweren Eisentür doch gegen Jugendliche und nicht gegen Terroristen verhandelt wird, erschließt sich nicht, die Beamten schweigen und setzen ein Ist-doch-ganz-normal-Gesicht auf. Das lässt Raum für Spekulationen, zumal die Angeklagten einer Hamburger Jugendgang mit Namen "Neustädter Jungs" angehören sollen. Prozessbeteiligte sprechen von einer Bedrohung aus der Neustädter Gang.

Hinter der Tür wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Fall verhandelt, der wie kaum ein anderer in diesem Jahr Hamburg erschütterte. Ein Fall, der Fragen nach der Wirksamkeit des Senatskonzepts gegen Jugendgewalt aufwarf und nach dem Umgang mit jungen Gewalttätern im Allgemeinen. Vor Gericht steht Elias A., der, gerade 16 Jahre alt, den nur drei Jahre älteren Schüler Mel D. im Bahnhof Jungfernstieg erstochen haben soll. Während die Staatsanwaltschaft ihm Totschlag zur Last legt, lautet die Anklage im Fall von Sebastian S. und Kamil K., beide 17, auf gefährliche Körperverletzung.

Die vier Angehörigen des Opfers erreichen über einen Seiteneingang den Saal. Gleich von drei Anwälten lassen sie sich in der Nebenklage vertreten. Ihr Kontrahent ist der ebenso geschätzte wie gefürchtete Strafverteidiger Uwe Maeffert.

Die juristische Phalanx soll durchsetzen, dass Elias A. seine gerechte Strafe erhält - sofern davon bei einer nach Jugendrecht maximal möglichen Strafe von zehn Jahren Haft überhaupt die Rede sein kann. Mel D.s Tod soll aber nicht umsonst gewesen sein. "Wir hoffen, dass von dem Prozess ein Signal ausgeht: dass sich eine derart brutale Tat nicht wiederholen darf", sagt Nebenklagevertreter Oliver Tolmein.

Jugendgewalt ist das große Thema des Prozesses, seine Überschrift. Die Unterzeile lautet: Wie konnte es zu diesem Exzess kommen? Nach der Tat wurde erst die kriminelle Karriere des Elias A. bekannt, dann Versäumnisse der Behörden, die die Gefährlichkeit des Intensivtäters falsch eingeschätzt hatten. Auch die Justiz geriet in die Kritik, zu lasch und zu langsam habe sie gearbeitet. Fünf Taten hatte der Sohn eines Afghanen und einer Serbin bereits als Kind begangen, kaum strafmündig, brach er 2009 einem Referendar den Kiefer, verprügelte einen Penny-Mitarbeiter. Seine Akte fasst 20 Einträge, und die einzige Strafe, die er erhielt, war eine Arbeitsauflage - fünf Sozialtage.

Der Tag, an dem Elias A. die Schwelle vom brutalen Schläger zum mutmaßlichen Totschläger überschritt, ist der 14. Mai. Er und vier Freunde treffen am S-Bahnsteig Jungfernstieg auf Mel D. und seinen Freund Beny A., 17. Die beiden warten auf die Bahn in Richtung Disco. "Was guckst du so?", schnauzt einer laut Anklage aus der Gruppe um Elias. Nach einer Rangelei verschanzt sich Beny hinter einer Sitzbank. Elias A., so die Anklage, wendet sich nun Mel D. zu, der von seinen Freunden geschlagen und getreten wird. Plötzlich soll er mit einem Messer zu einem wuchtigen Stoß ausgeholt haben, die Klinge verletzt Lunge und Herz. Mel D. schleppt sich noch eine Treppe herunter, den Mob im Nacken. "Sie haben ihn unter Beschimpfungen über den Bahnsteig gehetzt", sagt Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers. Erst als Sicherheitskräfte aufkreuzen, lassen sie von ihm ab. Mel D. verblutet noch auf dem U-Bahnsteig.

Eine Entschuldigung hat die Familie von Mel D. bis heute nicht erhalten. "Sie wollen auch keine Entschuldigung, sie wollen Gerechtigkeit", sagt Kristina Erichsen-Kruse, stellvertretende Landesvorsitzende des Opferschutzverbandes Weißer Ring. Sie hat vor dem Prozess mit den Angehörigen den Gerichtssaal inspiziert, damit sie sich vorstellen können, wie das ist, wenn sie dem Täter gegenübersitzen. Elias habe am ersten Prozesstag ständig auf den Boden gestarrt, als ob er sich unsichtbar machen wolle. Die Vorsitzende Richterin duze den Jugendlichen mit seinem Einverständnis. "Das schafft eine unangemessene Vertraulichkeit", sagt Erichsen-Kruse. Sie klingt entrüstet.

Elf Verhandlungstage sind anberaumt, der letzte am 25. November. 20 Zeugen sollen gehört werden, die Eltern und der Bruder von Elias wollen sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Am Mittwoch will sich Elias A. zur Sache einlassen. Der Nebenklage schwant, dass die Verteidigung den Vorwurf Totschlag auf eine deutlich milder zu bestrafende Körperverletzung mit Todesfolge drehen will. "Wir hoffen nur, dass nicht versucht wird, die brutale Tat herunterzuspielen", sagt Tolmein.