Schon seit 50 Jahren versorgt Ursula Graetsch Menschen auf der Straße. Heute erhält die 73-Jährige im Rathaus das Bundesverdienstkreuz.

Hamburg. Ursula Graetsch ist die Frau, der Hamburgs Obdachlose vertrauen. Seit mehr als 50 Jahren ist sie für "ihre Jungs" auf der Straße unterwegs. Die 73-Jährige klappert Kaufhäuser und Supermärkte ab, um Sachspenden für diejenigen zu bekommen, die nichts haben. Rund um die Uhr ist sie im Einsatz. Braucht jemand einen neuen Schlafsack oder eine warme Jacke, macht sich Graetsch so schnell wie möglich auf den Weg. Für ihr außerordentliches soziales Engagement verleiht ihr Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) am heutigen Freitag im Rathaus das Bundesverdienstkreuz.

Als Ursula Graetsch die Nachricht über die besondere Würdigung ihrer Arbeit erhielt, konnte sie es erst gar nicht glauben. "Unfassbar. Das Bundesverdienstkreuz kriegen doch nur die ganz Großen, ich mache doch nichts Besonderes", sagt die Frau, der überschwängliches Lob schnell peinlich wird und die den Mittelpunkt am liebsten anderen überlässt.

Sie sei sehr aufgeregt, könne kaum etwas essen. Dabei hat Graetsch bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Sat.1-Moderator Kai Pflaume überreichte ihr in der TV-Sendung "Deutschlands wahre Helden" den Ring der Menschlichkeit. Von Hamburgs ehemaligem Bürgermeister Ole von Beust (CDU) erhielt sie die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes. Doch das Bundesverdienstkreuz, das ist natürlich eine ganz andere Liga.

Angefangen hat alles in den 60er-Jahren auf dem Kiez. Ursula Graetsch arbeitete damals in einem Frühlokal an der Talstraße. In den Morgenstunden kamen die Nachtschwärmer von der Reeperbahn hierher, um sich noch einen Absacker zu genehmigen oder mit einem deftigen Frühstück die Folgen des Alkoholkonsums in Schach zu halten. Gegenüber der Kneipe saßen vor der Heilsarmee immer Obdachlose mit leerem Magen. "Ich wollte die Essensreste nicht einfach wegschmeißen und habe sie an die Männer ausgeteilt", erinnert sich Graetsch. "Mit der Zeit haben sie mich gefragt: 'Mensch, Uschi, haste vielleicht 'ne Hose oder nen warmen Pullover?'", fährt sie fort.

Dann habe die Sache irgendwie seinen Lauf genommen. Der Kreis ihrer Schützlinge wurde immer größer. Irgendwann waren es dann nicht mehr nur die Hungrigen vor der Heilsarmee, sondern auch Heimatlose am Hauptbahnhof und unter der Kennedybrücke. Plötzlich war die Frau mit dem großen Herzen der "Engel der Obdachlosen".

Tatkräftige Unterstützung erhält die Seniorin von ihrem Mann Hans-Werner. Wenn sie mal wieder unzählige Tüten mit ausrangierter Kleidung zu der Hilfseinrichtung Alimaus am Nobistor schaffen muss oder 100 übrig gebliebene Adventskalender aus dem Alsterhaus an bedürftige Kinder verteilen will, fährt er sie mit dem Auto durch die Stadt. "Ohne ihn würde ich das alles gar nicht schaffen", sagt Graetsch.

Der "Engel der Obdachlosen" hat viel Leid gesehen, aber auch ebenso viele wunderbare Momente erlebt. Beispielsweise, als sie vor einigen Jahren ein Pärchen von der Straße miteinander verheiratet hat. Oder die unbändige Freude eines Mannes über ein Paar Schuhe ohne Löcher. Oft wird Graetsch dann ganz fest in die Arme genommen und herzlich gedrückt. Berührungsängste kennt sie nicht. Beherzt schlüpft sie in die Zelte unter der Kennedybrücke, um zu schauen, woran es fehlt, oder lässt sich von den Hunden der Wohnungslosen neugierig beschnuppern. "Was soll denn passieren?", fragt die gebürtige Hamburgerin, die unfassbar schnell redet und das Gesagte mit einem milden Lächeln abschließt. "Ich kann doch höchstens Flöhe bekommen. Aber das ist mir noch nie passiert."

Eigentlich möchte Ursula Graetsch jetzt kürzertreten und mehr Zeit mit ihrem Hans-Werner verbringen. Aber so richtig ruhig will sie es dann doch nicht haben. Kürzlich hat sie ihr Buch "Glück braucht Mut - Mein bewegtes Leben" veröffentlicht. Und die "Jungs", die sieht sie immer noch regelmäßig. Einfach so an der Kennedybrücke vorbeizufahren, geht einfach nicht. "Ich liebe meine Arbeit, und die Freude daran hält mich jung", sagt Graetsch und lacht zufrieden.