Vor 75 Jahren sollte das Schiff 937 Juden von Hamburg nach Kuba in Sicherheit bringen. Eigel Wiese schildert ein Drama, das für viele doch im KZ der Nazis endete

Wohl selten war ein von Hamburg aus elbabwärts fahrendes Schiff mit mehr Hoffnung beladen als am 13. Mai 1939. Auf der „St. Louis“ der Hamburger Reederei Hapag hatten sich 937 deutsche Juden eingeschifft. Viele von ihnen waren in einem der sechs Konzentrationslager gewesen, die es zu jener Zeit schon gab. An Bord durften sie nur 20 Mark mitnehmen, ihre gesamte Habe mussten sie zurücklassen. Aber immerhin hatten sie Visa für Kuba, um dort so lange Asyl zu erhalten, bis sie in die USA einreisen dürften.

Deutschland war für viele Heimat, einige hatten im Ersten Weltkrieg für das Land gekämpft, waren verwundet und für ihre Tapferkeit ausgezeichnet worden. Aber die erst ein halbes Jahr zurückliegende Pogromnacht hatte gezeigt, wie bedroht sie in diesem Land waren. Nun konnten sie sich auf der „St. Louis“ statt wie Flüchtlinge als Passagiere eines Luxusdampfers fühlen. Die Mannschaft um Kapitän Gustav Schröder behandelte sie so zuvorkommend und höflich, wie sie es bei anderen Fahrgästen auch getan hatten. Die Küche bereitete Speisen nach den jüdischen Riten zu. Der Festsaal durfte für Gottesdienste genutzt werden. Bei diesen Gelegenheiten entfernte die Mannschaft das Hitler-Porträt aus dem Saal.

An Bord herrschte große Zuversicht, als das Schiff in den Hafen von Havanna einlief. Freunde und Bekannte, die in den USA Asyl gefunden hatten, standen an der Kaimauer zur Begrüßung. Die ersten Passagiere waren schon von Bord gegangen, als plötzlich Polizei auftauchte und sie mit Waffengewalt zurück aufs Schiff drängte. Der kubanische Präsident Federico Bru hatte über Nacht die Landeerlaubnis für ungültig erklärt. Grund dafür war möglicherweise ein innerpolitischer Machtkampf. Polizeiboote umkreisten das Schiff, die bislang sorglose und hoffnungsfrohe Stimmung kippte. Der jüdische Arzt Dr. Löwe schnitt sich die Pulsadern auf und sprang über Bord. Zwei Matrosen retteten ihn. Kapitän Schröder setzte sich dafür ein, dass zumindest dieser Emigrant an Land gehen durfte. Er verhandelte fünf Tage lang, um für seine Passagiere das Landerecht durchzusetzen. Schließlich durften 23 von Bord gehen. Dann wurde Schröder gezwungen, mit seinem Schiff abzulegen. Am 27. Mai ließ die „St. Louis“ in der Bucht vor Havanna die Anker fallen. Am 2. Juni musste sie die kubanischen Hoheitsgewässer verlassen.

Deshalb nahm Schröder Kurs auf die Küste Floridas und versuchte, Zeit zu gewinnen. Doch trotz der gültigen Papiere der US-Einwanderungsbehörde, die fast alle Passagiere besaßen und die in den kommenden Monaten wirksam würden, wiesen die USA sie ab, obgleich sie nachts schon die Lichter von Miami schimmern sehen konnten. Da erhielt Schröder über Funk von der deutschen Regierung den Befehl, bis zum 18. Juni nach Deutschland zurückzukehren. Da er wusste, dass er damit seine Passagiere ins Verderben führen würde, versuchte er sie im Schutz der Nacht in Rettungsbooten an Land zu bringen. Aber ein Boot der US-Küstenwache erfasste das Schiff mit Scheinwerfern und forderte es auf, die Küstengewässer zu verlassen.

An Bord bildeten die Flüchtlinge ein siebenköpfiges Komitee, das den Kapitän bei der Suche nach einer Lösung unterstützte. Denn inzwischen war die Stimmung immer verzweifelter geworden, Vorräte wurden knapp und mussten rationiert werden. In einem verschlüsselten Telegramm erhielt Schröder von der Hapag die Zusage, man werde ihn bei allem unterstützen, damit die Flüchtlinge nicht nach Deutschland zurück müssten. Schröder musste immer wieder gegen Anflüge von Meuterei unter den Passagieren kämpfen. Es gab an Bord Sabotageakte und Selbstmordversuche. Deshalb bot er an, mit dem Schiff zu einem Punkt zu fahren, der gleich weit entfernt von New York, Kuba und Haiti lag.

Der Kapitän erinnerte sich: „Es war eine Aufgabe, die mich mehr mitgenommen hat als mancher Taifun in der Südsee. Wer sich in die Lage meiner Fahrgäste und meine Sorgen hineindenken kann, wird mich verstehen.“ Passagiere schilderten später, die Besonnenheit des Kapitäns habe die Situation an Bord immer wieder beruhigt.

Doch Schröder war schließlich doch gezwungen, Kurs auf Europa zu nehmen. Später gab er zu, sogar eine Havarie vor der englischen Küste erwogen zu haben, damit die Menschen dort an Land gehen könnten. Doch einige Tage später trafen erste positive Nachrichten ein. Die belgische Regierung hatte sich bereit erklärt, eine Landung in Antwerpen zu gestatten, wenn England, Frankreich und die Niederlande einen Teil der Flüchtlinge übernehmen würden.

Die Passagiere reagierten auf die Meldung gemischt, viele glaubten nicht mehr an eine glückliche Wendung, sondern fürchteten, man wolle sie über das wahre Ziel der Reise hinwegtäuschen. In Antwerpen wurden die Passagiere in vier Gruppen aufgeteilt. Belgien nahm 214 von ihnen auf, 181 fanden in den Niederlanden Asyl. Der Hapag-Frachter „Rhakotis“ nahm die 224 für Frankreich und 287 für Großbritannien bestimmten Passagiere auf.

Fast alle „St. Louis“-Flüchtlinge, die in Großbritannien Asyl fanden, überlebten den Krieg. Von den 620 Passagieren, die nach Kontinentaleuropa zurückkehren mussten, wurden 254 in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet, nachdem Deutschland die entsprechenden Länder während des Zweiten Weltkrieges besetzt hatte.