Patricia Schlesinger wusste schon als Jugendliche, dass sie ihre „übergroße Neugierde“ nur als Journalistin würde befriedigen können. Beim NDR Fernsehen nutzt sie seit 25 Jahren alle Möglichkeiten dafür.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Patricia Schlesinger bekam den Faden von Katharina Trebitsch und gibt ihn an Michael Eggenschwiler weiter

Patricia Schlesingers Ausblick ist umwerfend. Vom Flughafen über das Stadtpanorama mit Kirchtürmen, Rathaus, Elbphilharmonie und Dom-Riesenrad bis zum Hafen liegt ihr Hamburg zu Füßen, wenn sie aus den Fenstern ihres Eckbüros im 13. Stock von Haus 11 auf dem NDR-Gelände in Lokstedt schaut. Weite und Überblick – gutes Feng-Shui für eine Journalistin, die für den Norddeutschen Rundfunk als Korrespondentin in Asien und den USA gearbeitet hat, die „Panorama“ moderierte und seit 2007 den Programmbereich Kultur und Dokumentation verantwortet.

Und die jetzt auf die Frage, was ihr den Kick gab, Journalistin zu werden, antwortet: „Neugierde. Übergroße Neugierde. Alles mitbekommen, alles verstehen wollen. Als Journalistin kann ich das, was ich verstanden habe, auch noch anderen Menschen erklären. Was für ein Privileg! Es macht mich glücklich, wenn wir starke Dokumentationen und Magazine senden.“

Der Keim zu dieser Neugierde wurde im Elternhaus bei Hannover gelegt. Ihr Vater war Manager bei der Preussag, die Familie ist immer viel gereist. Zeitungen, Zeitschriften, Bücher gab es reichlich im Elternhaus. Es wurde oft politisch diskutiert und gestritten. „Wir haben eine Ost-West-Geschichte und einen jüdischen Teil in der Familie, das war mein Großvater.“ Die Mutter des Großvaters wurde in Theresienstadt ermordet, der Mauerbau hat die Familie zerrissen. Der Großvater, der früher mal ein Autohaus in Görlitz betrieben hatte, war Anfang der 50er-Jahre als LDPD-Mitglied kurz Gesundheitsminister in Sachsen.

Die Schülerin Patricia mit dem rötlich blonden Haar liest viel, mag Debatten und weiß mit 16, dass sie Journalistin werden will. Sie jobbt nach dem Abitur in Paris, um sich dort ein unbezahltes Praktikum bei einer Zeitung leisten zu können. Studiert Politikwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftsgeografie, „gezielt mit Blick auf den Journalismus“.

Macht Praktika, beim Hamburger Abendblatt, bei der „Frankfurter Rundschau“, schreibt danach weiter für beide Zeitungen. Ein Aushilfsjob bringt sie zum NDR, bald kennt sie Leute, über die sie ein Praktikum beim „Hamburg Journal“ bekommt. Und merkt: „Es macht Spaß, mit Bildern zu arbeiten, jedes Bild ist stärker als jedes Wort, ich erreiche die Menschen viel leichter.“

Beim NDR bekommt sie 1988 ein Volontariat. Wird 1990 Reporterin für „Panorama“ und 1995 TV-Auslandskorrespondentin in Singapur. „Da hab ich auch ein bisschen gedrängelt, weil ich Auslandskorrespondentin werden wollte. Ich wollte raus in die Welt.“ Ihr Berichtsgebiet von Singapur aus: zwölf Länder, darunter Vietnam, Kambodscha, Laos, Malaysia, Thailand, Australien, Neuseeland. Was sie dort besonders interessiert hat? „Unfertige, fragile Gesellschaften finde ich spannend“, sagt sie, „die ihren Weg noch suchen. Was hält sie zusammen, was spaltet sie, was bringt sie voran? Wie kann man Lebenschancen schaffen?“ 1997 holt der Sender sie zurück, um „Panorama“ zu moderieren. 2001 darf sie wieder raus: Washington. Studioleiter ist Claus Kleber, 2002 übernimmt Tom Buhrow.

Ausgeruhte Filme will sie machen. Doch sechs Wochen nach ihrer Ankunft verändern die Anschläge von 9/11 die Welt und ganz besonders Amerika. „Wir sind tagelang nicht mehr aus dem Studio gekommen, haben kaum geschlafen. 9/11 hat meine Zeit in den USA geprägt – zwei Kriege, erst Irak, dann Afghanistan. Noch eine Wahl, und dann war ich wieder zu Hause.“ Hinter ihrem Schreibtisch hängt ein Foto, das sie mit Ex-US-Präsident Jimmy Carter zeigt. Reporter-Stolz? „Er bewegt viel mit seiner Afrika-Stiftung, ich bewundere ihn, das ist alles.“ Bush jr. steht nur als „Jack in the Box“ im Regal und darf manchmal aus seiner Blechbüchse springen.

Nach Amerika kommt die Abteilung Ausland und Aktuelles, dann 2005 der Wechsel zur Kultur und Dokumentation, die sie heute leitet. Wie sieht da der Arbeitsalltag aus? „Frühes Aufstehen, Kind in die Schule, Viertel nach acht im Büro. Zeitungen, Internet, Konferenzen. Ich mache manchmal Redaktion für bestimmte Dokumentationen, die mir besonders am Herzen liegen, sitze auch mal mit im Schneideraum.“ Wie das die Mitarbeiter finden? „Vielleicht nicht nur toll, aber sie wissen, dass ich für sie und ihre Projekte auch kämpfe.“ Büroschluss ist zwischen Viertel vor sieben und neun Uhr, eine „Abendmappe“ darf mit nach Hause, Wochenendmappen gibt es auch. Wie findet man da die Balance zwischen Arbeit und Privatleben? Die 52-Jährige ist mit einem „Spiegel“-Redakteur verheiratet, „vielleicht kann nur ein Journalist das Maß an Leidenschaft verstehen und tolerieren. Wenn man tagelang gedanklich oder auch physisch abtaucht, weil ein großes Projekt ansteht. Außerdem macht es Spaß, am Tisch zu diskutieren. Ich bin froh, dass ich eine Familie habe und bin leidenschaftlich gern Mutter. Es erdet mich und fängt mich auf.“ Ihre Tochter ist 13 Jahre alt, lernt Chinesisch und hat von der Mutter „das Reise-Gen“ geerbt.

Mal abschalten? „Doch, kann ich. Ich telefoniere zwar auch im Urlaub, bin mal bei Schaltkonferenzen dabei, aber im Sommer bin ich drei Wochen nicht im Sender. Ich muss aber nicht unbedingt komplett abschalten, weil ich meine Arbeit wirklich gern mache.“ Höhere Ziele? Sie streicht sich das Haar hinters Ohr. „Neee. Ich kratze nicht am Horizont und sage: Ich will da- oder dorthin, wo ist die Lücke für mich?“ Sie zeigt auf das Hamburg-Panorama: „Es ist doch wunderschön hier, oder?“

Sie erzählt von den Projekten ihrer Abteilung. „Dokumentationen haben gerade wieder eine Renaissance – längere, tiefgründigere, relevante Stücke. ‚Helmut Schmidt – Lebensfragen‘ zum Beispiel, zum 95. Geburtstag des Alt-Kanzlers, Ausstrahlung am 23. Dezember.“ Unter dem Arbeitstitel „Junges Deutschland“ der Versuch, mit jungen Leuten deutsche Geschichte zu erzählen: „Wir probieren gern neue Formen aus.“

„Töte zuerst!“, eine aufwendige Dokumentation über den israelischen Inlandsgeheimdienst Shin Bet, an der sich der NDR als einer der ersten beteiligt hat, wurde mehrfach ausgezeichnet und bekam eine Oscar-Nominierung. Oder, gerade erstmals vorgeführt: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort – Lüge und Wahrheit in der Politik“, Ausstrahlung am 12. August, 22.45 Uhr im Ersten.

Hört man sich im Sender um, wird Patricia Schlesinger gern so beschrieben: kühl, gradlinig, direkt, meinungsfreudig, manchmal zickig. „Was heißt hier manchmal zickig? Das sagt man interessanterweise nur bei Frauen. Männer gelten als durchsetzungsstark, Frauen als zickig. Es geht um die Lust an Auseinandersetzung und bei Frauen auch darum, nicht alles persönlich zu nehmen, das ist manchmal schwierig.“ Sie macht eine kleine Pause. „Kühl stimmt nicht, den Rest würde ich so unterschreiben.“

Haben diese Eigenschaften ihre Bilderbuch-Karriere befördert? „Ich habe auch viel Glück gehabt, sehr viel. Und Glück macht demütig.“ Frauen in der politischen Berichterstattung waren zu Beginn ihres Berufswegs noch einigermaßen exotisch. „Es gab sogar ältere Herren, die sagten: ,So wie Sie aussehen, machen Sie doch was mit Mode oder Reisejournalismus.‘“ Heute sitzt sie mit ihrer Kollegin Claudia Spiewak der Volontärskommission des Senders vor. Und rät jungen Frauen: „Sagt, was ihr wollt. Zeigt, was ihr könnt. Lauft los, macht es, dann schafft ihr es auch.“