Als Intendant bringt er die Symphoniker nicht nur mit Ideen nach vorn, sondern auch durch rastloses Werben um Aufmerksamkeit. Verena Fischer-Zernin über einen Juristen, der der Musik schon immer ganz nah war.

Ein Außenseiter ist er seit jeher gewesen. Anders irgendwie. Der einzige Junge in der Ballettklasse seiner Schule; ein Jugendlicher, der seine Pubertätsjahre mit Goethe und Donizetti zubrachte; später dann ein Neuling, der auf einen Intendantenstuhl katapultiert wurde.

Mittlerweile schaut Daniel Kühnel, mit gerade 40 Jahren trotz eines silbrig überhauchten Dreitagebarts noch immer von jünglingshafter Ausstrahlung, auf neun Jahre bei den Hamburger Symphonikern zurück. An einem strahlenden Julitag serviert er grünen Tee in den Verwaltungsräumen des Orchesters auf der Rückseite der Laeiszhalle. Der Blick aus dem schmalen Fenster geht auf den Parkplatz hinter dem Gebäude hinaus, mehr als ein großer Schreibtisch, ein paar Stühle und ein Sideboard hat nicht Platz in Kühnels Büro. Repräsentativ geht anders. „Es ist ein bisschen unpersönlich“, sagt Kühnel, „aber ich fühle mich wohl, weil wir hier in der Laeiszhalle sind.“

Dass er seit seinem Amtsantritt nie dazu kam, die Bilder aufzuhängen, die an der Wand lehnen, verrät seine Prioritäten. Nah dran sein an der Musik, das ist wesentlich für Kühnel, das war es schon, als er sich als Schüler in musikwissenschaftlichen Bibliotheken etwa mit dem Verhältnis von Strauss zu Wagner beschäftigte. Und in diesem Büro ist er sehr nah dran, ob es ihm gerade passt oder nicht. Wenn nebenan im Studio E Proben stattfinden, hört er in Originallautstärke mit.

Ob seiner eleganten Kleidung und des Humidors auf dem Sideboard könnte man ihn für einen hauptamtlichen Ästheten halten, aber das weist er von sich. „Ästhet, das klingt mir zu parfümiert! Schönheit ist für mich kein Wert an sich. Schönheit hat unbedingt mit Wahrheit zu tun. Und Wahrheit zu erleben ist etwas sehr Seltenes.“ Der Ernst, mit dem er sich derlei grundsätzlichen Fragen zuwendet, ist charakteristisch für ihn. Von persönlichen Dingen schweigt er. Mit seiner Lebensgefährtin und deren zwei Kindern lebt er in Eppendorf, das muss reichen. Und dass er um seinen Hund Lotte trauere, erzählt er noch.

Es ist etwas Verschattetes um Kühnels graublaue Augen. Doch sein Blick, seine eigentlich leise Stimme dringen durch. Kühnels unbändiger Wille umgibt ihn wie ein elektromagnetisch aufgeladenes Feld. Ohne diesen Willen säße er vermutlich nicht in diesem Erdgeschossbüro. Es gehört schon einiger Mut dazu, als Rechtsassessor eine so exponierte Stelle zu übernehmen. Sein Vorgänger Peter Dannenberg hatte ihn angesprochen, und diese Chance musste Kühnel einfach ergreifen. „Ich habe schon früh herausposaunt, dass ich ins Kulturmanagement möchte“, erzählt er. „Juristen traut man nämlich häufig nichts anderes als Verwaltungsaufgaben zu.“

Ohne Kühnels Willen stünden aber auch die Hamburger Symphoniker nicht da, wo sie heute stehen. Mit Andrey Boreyko, der in derselben Saison als Chefdirigent bei den Symphonikern begann, hat er das Orchester aus der Ecke geholt, in der es weitgehend unbeachtet vor sich hinstaubte. Aufregende Programme brachten frischen Wind und überregionale Aufmerksamkeit – und als Boreyko ging, landete Kühnel einen Coup, indem er den international angesehenen Mozart-Exegeten Jeffrey Tate als Nachfolger an die Elbe lockte. Ein überaus produktives Gespann: Während Tate hervorragende Arbeit als Orchestererzieher leistet, beugt sich Kühnel nicht nur über Verträge oder rührt die Finanztrommel für sein klammes Ensemble, er sprüht vor programmatischen Einfällen. Auf sein Konto gehen zahlreiche Erweiterungen im Angebot des Orchesters wie eine Liederabendreihe und kleine Festivals. Auch die Idee, das Musikalische an kulturgeschichtlich bedeutenden Zentren der Menschheit zu entdecken und damit die Debatte um die Musikstadt Hamburg zu bereichern, war seine. Die römischen Reiche waren schon dran, das antike Delphi und, zum Auftakt vor zwei Jahren, Jerusalem.

Deutlicher könnte Kühnels Handschrift nicht zutage treten. Schließlich ist er in der Stadt, die für die Juden zugleich eine theologische Verheißung ist, geboren und zur Schule gegangen, mehr noch, fürs Leben geprägt worden. „Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Jerusalem der Mittelpunkt der Welt ist“, sagt er und setzt fast besorgt hinzu: „Das soll jetzt keinesfalls politisch oder chauvinistisch klingen.“

Daniel Kühnel, der Israeli mit dem deutschen Namen, ist der Sohn rumänischer Einwanderer. Die Familienbiografie ist so verzweigt, als sollte sie die Verwerfungen des 20. Jahrhunderts im Kleinen abbilden. Sein Großvater väterlicherseits zog einst aus wirtschaftlichen Gründen von Weimar nach Bukarest – und der Vater durfte als Deutschstämmiger im kommunistischen Rumänien nicht studieren. Kühnels Mutter wiederum durfte nicht studieren, weil ihre Eltern 1945 einen Ausreiseantrag gestellt hatten. 19 Jahre später wurde er bewilligt – 19 Jahre, in denen sich die jüdische Familie an die Hoffnung klammerte: Wenn wir erst in Jerusalem sind... so wie die Juden in aller Welt einander beim Pessachfest „nächstes Jahr in Jerusalem“ sagen.

Kühnel bewegt sich mühelos auf dem Hamburger Gesellschaftsparkett. Und doch läuft in seinem Kopf wie bei vielen Juden das Thema Antisemitismus mit. „Je älter ich werde, desto mehr reflektiere ich“, sagt er. „Manchmal schnappe ich auf der Straße auf, wie einer zum anderen sagt: Der Jude hat mich betrogen. So etwas schockiert mich. Sollen die Leute das doch in ihrem Wohnzimmer denken, wenn sie es denken möchten.“

Im Gegensatz zu heute war es Anfang der 90er-Jahre für junge Israelis durchaus ungewöhnlich, nach Deutschland zu gehen. Für Kühnel dagegen war das keine Frage, denn sein Wunschfach Musiktheaterregie gab es eben nur dort. Weil er die Anmeldefrist verpasst hatte, schrieb er sich in Berlin für Jura und Musikwissenschaft ein.

Das Jurastudium muss für ihn, der bis dahin kaum auf Deutsch geschrieben hatte, eine Art Rosskur gewesen sein. „Erst rückblickend sehe ich, wie frech ich war“, erinnert sich Kühnel. Wortungetüme wie „Gemengelage“ bedeuteten für ihn wochenlange Kämpfe: Er konnte sich nichts darunter vorstellen, was das wohl rechtlich bedeuten mochte – aber fragen mochte er auch nicht. Zu scheu.

Leicht gemacht hat er es sich nicht. Statt ein griffiges Thema zu wählen, das ihn für das Kulturmanagement qualifiziert hätte, begann er eine Dissertation über verfassungsrechtliche Grenzen der Besteuerung – und ließ sie liegen, als er zu den Symphonikern ging. „Ich sehe die Unterlagen jeden Tag“, sagt er, „irgendwann schreibe ich die Arbeit fertig.“ Geblieben ist ihm der tiefe Respekt vor der Entschlossenheit, mit der 1949 die Gründerväter der Bundesrepublik die Erfahrungen des Unrechtsstaats in ein klar formuliertes Grundgesetz gegossen haben. „Kein anderes Land hat das so konsequent getan. Das sage ich als der Restjurist, der ich noch bin.“

Seinen weiten Horizont hat er sich bewahrt. Kühnel erzählt, dass Haute-Couture-Häuser ihre Spitzenstoffe immer noch in Handarbeit in Südfrankreich herstellen lassen, und im nächsten Moment, wie sich der Gläubige nach der Lehre des mittelalterlichen jüdischen Philosophen Moses Maimonides Gott nähern soll. Und schwenkt dann jäh zur Politik: „Warum fragt eigentlich niemand Jeffrey Tate, Simone Young oder Thomas Hengelbrock nach der Hafenerweiterung? Wenn die Stadt sich schon selbst zur Musikstadt ernennt, dann muss sie auch zur Kenntnis nehmen, was die Musiker zu sagen haben.“

Kühnel hat keine Scheu, für die Interessen seines Orchesters Leuten in den Ohren zu liegen. Zwar hatte der Senat die Förderung des Orchesters seit 2007 um knapp zwei Millionen Euro jährlich angehoben. Doch die Tarifaufstockung für den begehrten A-Status, die Kühnel schon bis in den Koalitionsvertrag der Regierung Beust geboxt hatte, ruht zurzeit. Neue Hoffnung können der umtriebige Intendant und seine Musiker erst zum Doppelhaushalt 2015/16 schöpfen.

Anfang des Jahres hat er seinen Vertrag bis 2019 verlängert. „Ich habe das Gefühl, dass die Arbeit, die Jeffrey Tate und ich mit den Symphonikern begonnen haben, noch nicht abgeschlossen ist.“ In welche Richtung diese Arbeit geht, darüber kann freilich auch ein fantasiebegabter Kopf wie Daniel Kühnel schon mal ins Grübeln geraten. „Es ist wichtig, nicht mit einem fertigen Konzept zu kommen, sondern offen zu sein“, sagt er über die Arbeit mit dem Orchester. „Man braucht eine hohe soziale Intelligenz, um mit so einem Kollektiv umzugehen.“ Wenn der Intendant Glück hat, steht in dem Kräftespiel der Chefdirigent auf seiner Seite. „Das Vertrauensverhältnis zwischen Jeffrey Tate und mir ist etwas sehr Besonderes“, sagt Kühnel. Doch innerhalb des Orchesters lassen sich nicht alle Konflikte auflösen. Dann muss man den Mut haben, einen gefundenen Kompromiss auch durchzusetzen. „Der Intendant wird nicht geliebt“, sagt Kühnel. „Dafür ist er nicht da. Man ist als Intendant relativ einsam.“

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Daniel Kühnel bekam den Faden von Marietta Andreae und gibt ihn an Maja Stadler-Euler weiter