Dem Charme der Sylter Sandgebirge erlagen auch große Künstler wie Max Frisch und Emil Nolde. Irene Jung nutzt sie als Logenplatz für ein Welttheater - den Auftritt der Nordsee.

Für mich ist Sylt nicht da, wo Stuttgarter Kurgäste Goschs Asia-Pfanne probieren oder Kölnerinnen ihre Klamotten vom Sansibar-Outlet herzeigen. In Rantum angekommen, muss ich sofort den Sandweg zur Düne hochlaufen. Erst ganz oben, wo der Weg zum Strand abfällt, liegt sie dann in ganzer Pracht vor mir: die Nordsee. Mal friedlich blau und glatt unter der Sonne, mal schäumend grau-weiß im Sturm und in manchen Wintern wie ein formlos schwarzes Ungeheuer, das Eisburgen auf den Sand spuckt. Schlagartig ist man in Stimmung für ein Welttheater - und die Dünen sind der Logenplatz.

Wie einen Gebirgszug zwischen Watt und offener See empfand der Verlagsgründer Peter Suhrkamp diese "Dünenlandschaft aus runden Buckeln, glatten Kegeln, scharfkantigen Pyramiden, Kränzen kleiner Hügel und lang gestreckten Sanddächern", wie er in seinem Buch über "Die nordfriesische Insel" notierte. Die Farben dieses weichen Gebirges variieren "von blendendem Weiß nach Gelb und Ocker, Braun und Lila", je nach Vegetation. Je weiter man nach Norden wandert, desto imposanter und archaischer wird es: von Heide bewachsene Braundünen, Graudünen mit weiten Moos- und Flechtenteppichen, Weißdünen mit Strandhafer und Quecke. Ein Meer aus Sand, das zwischen 8000 und 3000 Jahre alt ist. Kein Wunder, dass alte Insellegenden von Elfen, Zwergen und Hexen erzählen, die nächtens durch die Dünen stromerten, ganz abgesehen von den "Wiedergängern" ertrunkener Seeleute. Als die Dünenberge durch die Jahrhunderte immer weiter nach Osten wanderten, begruben sie auch Siedlungen auf dem Geestkern in der Sylter Mitte unter sich. Seit dem 18. Jahrhundert werden die Dünen deshalb zur Befestigung mit Strandhafer bepflanzt.

Nördlich der Kampener Vogelkoje zahlt man 5 Euro an einem Holzhäuschen und fährt mit Rad oder Auto auf der fast schnurgeraden Straße Richtung Ellenbogen. Nach zwei Kilometern führt rechts ein Sandweg zur großen Wanderdüne - in eine unglaubliche, fast surreale Landschaft mit Kratern und windgefalteten Abhängen. "Merkwürdig, wie sehr solche flach auf dem Meer schwebende Insel an die großen Kare und Tafeln im Hochgebirge erinnert", fand der Schriftsteller Robert Musil. Es ist einsam hier. Im Sand nur noch die Abdrücke von Vogelfüßen und Schafhufen, ein paar mumifizierte Kaninchenkötel. An einem braunen Heidebuckel halten zwei Lämmchen in der buttergelben Aprilsonne Mittagsschlaf, während ihre Mutter grast. Bienen summen, irgendwo kiewitzt ein Kiebitz. Über der dunklen Heide leuchtet die gewaltige Düne schneeweiß wie eine Schneekuppe. Thomas Mann hat sie 1921 noch bestiegen ("Seltsamster Eindruck", notierte er im Tagebuch), heute darf man sie nicht betreten. Zwei Mitwanderer in gelben Anoraks betrachten sie ehrfürchtig durchs Fernrohr.

Das ist nur eine Seite der Sylter Dünen. Eine andere sind die grünen Gräserwellen in Strandnähe, in deren windgeschützte Täler sich im Sommer Familien und Liebespaare zurückziehen. Hier ist man ungestört - wenn man es sein will. Oswalt Kolle, der in Kampen ein Haus hatte, ließ sich gern stören: In den Dünen oberhalb des Nacktbadestrands ließ er sich 1970 samt Familie für "Dein Kind, das unbekannte Wesen" filmen und klärte Tochter und zwei Söhne publikumswirksam über alles auf, was Kinder nicht zu fragen wagten. In den Kampener Dünen lernte übrigens auch Beate Uhse ihren späteren Mann Ernst-Walter Rotermund kennen. Diese Dünen haben schon einiges erlebt, seit der Altonaer Arzt Gustav Ross um 1855 die Insel als idealen Bade- und Kurort entdeckte. Nicht alle Sylter sahen darin eine willkommene Erwerbsquelle, manche befürchteten durch Fremde eine Gefährdung nordfriesischer Sittlichkeit. Man hatte ja schon Mühe, die eigenen Jugendlichen von nächtlichen Dünenbesuchen abzuhalten, und was in "Modebädern" los war, wusste man ja ... Ganz abwegig war diese Ahnung nicht, wie ein Chronist festhielt: Als einer der ersten Badegäste traf eine Gräfin S. samt Zofe und Hündchen ein, deren ergrauter Gatte nach mehreren Ehejahren immer noch auf Nachwuchs wartete. In einem Spottgedicht hieß es: "Hurtig badeten sie vier Wochen lang / Am Badestrand von Westerland. / Und als sie schieden dann zur Stund / Waren schwanger Gräfin, Zofe und Hund."

Zuerst behinderten ausgerechnet die Dünen den Sylter Aufstieg zum Modebad. "Weite Strecken durch struppiges Dünengras und angehäuften Sand" zum Strand seien "beschwerlich zu wandeln für Reifröcke und Pariser Stiefelchen", schrieb ein Journalist 1861. Auch die Revolutionärin Rosa Luxemburg war enttäuscht, als sie 1901 auf Sylt kurte. Einer Freundin beschrieb sie eine "Kette winziger Sandhügel, auf die zu steigen mein Fuß verschmäht", und das Rote Kliff sei "weder rot noch ein Kliff". Ganz anders Thomas und Klaus Mann, Ernst Rowohlt, Max Frisch oder Emil Nolde: Sie konnten sich dem herben Charme der Dünenlandschaft nicht entziehen. Die ist ein Erlebnis für sich. Und man weiß: Nur ein paar Schritte entfernt wartet der unendliche Ozean, der das Ganze geschaffen hat.