Virus und Futterklau: Weil Grauhörnchen die auch in Hamburg beliebten roten Nager verdrängen, landen sie in Großbritannien schon im Kochtopf

Eichhörnchen sind, was das Temperament angeht, die Sizilianer unter den Kleinsäugern. Das glauben Sie nicht? Mal ein Beispiel. Links ein Eichhörnchen, rechts ein Apfel, dazwischen ein Weg. Das Eichhörnchen freut sich schon. Da nähert sich ein Spaziergänger - in den Augen des Eichhörnchens ein Schussel, der hier gerade ABSOLUT nichts zu suchen hat - und stört den Workflow. Manche Eichhörnchen hechten jetzt kamikazeartig über den Weg, um ihren Apfel zu retten. Die meisten aber sausen auf einen Ast, trommeln dort wütend mit den Pfoten und beschimpfen den Eindringling mit lautem Keckern. Angesichts des Größenunterschieds zwischen Mensch und Eichhörnchen ist das ein erstaunlich selbstbewusstes Verhalten.

Vor etwa 33 Millionen Jahren, als die Vorfahren des Menschen noch als katzengroße Lemuren von Baum zu Baum sprangen, entwickelten sich aus einem gemeinsamen Vorfahren auch Erd- und Baumhörnchen. Seither verfolgen Eichhörnchen die Entwicklung des Menschen mit Misstrauen. Weil der Mensch jahrtausendelang Eichhörnchen jagte und aß. Der moderne Mensch ist satt genug. Hatten wir jedenfalls gedacht. Aber jetzt werden Eichhörnchen in Großbritannien und den USA tatsächlich wieder zum Verzehr empfohlen. Einige britische Restaurants bieten sie schon in Suppen, Pies und als Grillgut an. Auch Trendkoch Jamie Oliver zeigt in seinem Online-Magazin "Jamie" ein Eichhörnchen-Ragout ("Es schmeckt ein bisschen nussig") und räumt ein: "Food-Liebhaber jubeln, Naturliebhaber trifft der Schlag."

Was mit der Nahrungsempfehlung bezweckt wird, ist die Dezimierung der Eichhörnchen - allerdings nicht der europäischen roten Eichhörnchen (Sciurus vulgaris), sondern ihrer eingeschleppten Verwandten, der Grauhörnchen (Sciurus carolinensis), die ursprünglich im Osten Nordamerikas zu Hause waren. Seit den 1870er-Jahren setzten Liebhaber ein paar Exemplare in Südengland aus, weil man sie niedlich fand. Seither expandierte die Art. Populationen werden heute auch in Wales, Schottland und Irland gesichtet. Man muss in einem britischen Park nur eine Nanosekunde lang mit einer Tüte rascheln - schon stürzt ein mehrköpfiger Trupp von Grauhörnchen aus dem Gebüsch und pflanzt sich erwartungsfroh vor dem Besucher auf.

Schon in den 1950er-Jahren versuchte man diese Ausbreitung zu stoppen: Schützenvereine bekamen Prämien für erlegte Eichhörnchen. Aber nach neueren Studien der Universität Newcastle stehen heute rund 140 000 roten schon mehr als 2,5 Millionen Grauhörnchen gegenüber. 1981 wurden sie in Großbritannien offiziell auf die Liste der Schädlinge gesetzt. Wer ein Grauhörnchen in die freie Wildbahn setzt oder ausbüxen lässt, wird bestraft.

Warum verdrängen die Grauen die Roten? Ein Grund scheint zu sein, dass sie, anders als ihre roten Verwandten, im Winter keine Ruhezeiten brauchen. Stattdessen plündern sie deren verbuddelte Vorräte. Das hat dazu geführt, dass gerade weibliche rote Eichhörnchen oft zu wenig Nahrung finden, wenn sie ab und zu aufwachen; im Frühjahr sind sie dann zu mager, um Junge zu werfen. Wo Grauhörnchen in der Nähe leben, geht die Reproduktion der roten Art zurück, haben Wildbiologen beobachtet. Der dramatischste Faktor aber ist das "Parapox"-Virus, den rund 70 Prozent der Grauhörnchen tragen: die Eichhörnchen-Pocken. Sie selbst sind dagegen immun - ihre roten Verwandten nicht, sie sterben innerhalb von 14 Tagen. Offenbar infizieren sie sich an gemeinsamen Futterstellen.

Das alles wäre ein rein britisch-insularer Konflikt geblieben, hätte nicht 1948 ein italienischer Diplomat zwei Grauhörnchen-Pärchen im Park seiner Villa bei Turin ausgesetzt. Mit absehbaren Folgen: Heute gibt es Grauhörnchen auch in der Lombardei, in Ligurien - und im Piemont, wo die berühmte piemontesische Haselnuss Tonda Gentile angebaut wird. Für das Grauhörnchen ein Schlaraffenland - für die Haselnussbauern ein Albtraum. Schon 2002 warnten Artenschützer, dass Grauhörnchen binnen 20 Jahren die Grenzen zu Frankreich und der Schweiz und damit die Alpen überqueren werden. Die Internationale Naturschutzunion IUCN hat sie auf die Liste der 100 gefährlichsten invasiven Arten gesetzt. Dazu gehören auch die Chinesische Wollhandkrabbe, die unsere Flüsse aufrollt, und der Asiatische Marienkäfer, der unsere Blumen heimsucht.

Der Eichhörnchenkrieg wirft geradezu philosophische Fragen auf. Vor 600 Jahren eroberten wir Europäer den amerikanischen Kontinent und dezimierten dort Ureinwohner durch mitgebrachte Infektionskrankheiten. Dürfen wir das Grauhörnchen für den gleichen Effekt bestrafen - obwohl es erst durch Menschen nach Europa kam? Man denkt bereits an Reservate für heimische Eichhörnchen.

Unser kleiner roter Freund mit dem Apfel ahnt davon nichts. Im Oktober und November wendet er seine ganze Energie zum Sammeln von Wintervorräten auf. Machen Sie deshalb um Himmels willen einen großen Bogen um schwer arbeitende rote Eichhörnchen. Oder bringen Sie ihnen Äpfel, Karotten, Trauben oder Nüsse gleich selbst mit.