Integrationsstaatsministerin Aydan Özoguz über NSU-Mordserie und rechte Gewalttäter

Heute vor drei Jahren erfuhren die Deutschen, dass Rechtsterroristen mutmaßlich zehn Menschen ermordet hatten. Über Jahre blieb die Serie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zuvor unentdeckt. „Bei den Familien der Opfer klafft noch immer eine Wunde“, sagt Aydan Özoguz. Die Hamburger SPD-Politikerin ist Beauftragte der Bundesregierung in Sachen Flüchtlinge und Integration.

Hamburger Abendblatt:

Drei Jahre ist es her, dass die NSU-Mordserie bekannt wurde. Aber kaum jemand spricht noch über den Prozess gegen die Terrorzelle in München. Beunruhigt Sie das?

Aydan Özoguz:

Das ist nicht so überraschend. Die Aufmerksamkeit der Medien sinkt auch bei anderen schrecklichen Nachrichten nach und nach wieder. Aber die Familien der zehn Opfer verfolgen das Verfahren sehr genau. Die Angehörigen blicken zudem sehr kritisch auf die Konsequenzen, die der deutsche Staat nach dem Versagen der Sicherheitsbehörden gezogen hat. Es klafft immer noch eine tiefe Wunde bei den Familien der Opfer. Denn es bleibt bis heute ungeklärt, wonach der NSU seine Opfer aussuchte. Beate Zschäpe schweigt. Nur sie könnte über die Motive des NSU Auskunft geben.

Nach dem NSU-Terror gab es Untersuchungsausschüsse und die Terror-Datei zum Rechtsextremismus. Sind das die richtigen Konsequenzen?

Özoguz:

Die meisten Politiker und Sicherheitsbeamten sind wachgerüttelt worden durch das Bekanntwerden der NSU-Mordserie. Die Methoden der Ermittler waren engstirnig und irreführend, unschuldige Migranten wurden einem ungeheuren Tatverdacht ausgesetzt. Hinweise in Richtung Rechtsextremismus wurden damals nicht verfolgt. Die Behörden sind nun alarmiert und haben auf die Fehler bei den Ermittlungen reagiert. So etwas würde es heute in dieser Form nicht mehr geben.

Was macht Sie da sicher?

Özoguz:

Absolute Sicherheit vor Rechtsterrorismus gibt es nie. Aber sowohl die Reform des Verfassungsschutzes und die Einführung einer Terror-Datei gegen Rechtsterrorismus sind wichtige Instrumente. Letztendlich geht es auch darum, das Vertrauen der Migranten in den Sicherheitsapparat wieder zu stärken.

Viele Beschlüsse des NSU-Untersuchungsausschusses sind nicht umgesetzt.

Özoguz:

Das stimmt. Nicht alle Beschlüsse lassen sich sofort umsetzen. Nur ein Beispiel: Der Bundestag fordert, dass vermehrt auch Menschen mit ausländischen Wurzeln in den Behörden arbeiten. Aber diese Maßnahme ist nur über Jahre zu realisieren, denn die Behörden stellen üblicherweise nach und nach neue Mitarbeiter ein. Hierbei gilt es, Bewerber mit Zuwanderungsgeschichte gezielt zu berücksichtigen. Ein wenig Zeit müssen wir den Sicherheitsbehörden geben.

Wie lange?

Özoguz:

Ende 2015 werden wir nachprüfen, ob alle Maßnahmen umgesetzt worden sind, die der Bundestag von Polizei und Nachrichtendiensten fordert.

Hooligans demonstrierten in Köln gegen Salafisten. Hat Sie das überrascht?

Özoguz:

Mich überrascht die Allianz aus gewaltfixierten Alt-Hooligans und gewaltbereiten Rechtsextremisten. Auch die Zahl von 4500 Demonstranten in Köln ist erschreckend. Sowenig Hooligans mit Fußball zu tun haben, so beliebig ist der Anlass, den sie für ihre Gewalt nutzen. Dadurch, dass sie sich jetzt mit Nazis zusammengetan haben, wird diese Gewalt aber politisch. Der Rechtsextremismus im Fußball ist in den vergangenen Jahren wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten. Dort müssen wir handeln.

Es hat lange gedauert, bis auch Muslime in Deutschland gegen den „Islamischen Staat“ auf die Straße gegangen sind. Scheuen muslimische Gemeinden die Auseinandersetzung mit dem Terror von Islamisten?

Özoguz:

Muslimische Gemeinden wehren sich gegen die Nähe, die ihnen zu Terroristen des sogenannten Islamischen Staats unterstellt wird. Sie haben sich deutlich von diesem Terror distanziert. Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland hat mit den Verbrechen des IS doch nichts zu tun. Sie haben Angst, wie sie und ich. So wichtig die Zeichen der Muslime gegen Gewalt sind, so sehr wünsche ich mir, dass unsere Gesellschaft differenziert und letztendlich, nicht von jedem Muslim eine Distanzierung von Gewalt und Terror verlangt.

Woran liegt das?

Özoguz:

Deutschland ist ein Einwanderungsland aber noch keine richtige Einwanderungsgesellschaft. Viele Deutsche verharren noch immer in ihrer grundsätzlichen Skepsis gegenüber Moscheen in ihrer Nachbarschaft. Zu wenige Menschen schauen sich die Gebetshäuser in ihrer Stadt beispielsweise am „Tag der offenen Moschee“ an.

Sollten Salafisten mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit ausgewiesen werden?

Özoguz:

Nicht jeder Salafist ist ein Terrorist. Ein verurteilter Straftäter muss mit einer Ausweisung rechnen. Radikale Islamisten mit einem deutschen Pass können wir sowieso nicht abschieben.

Hat der Staat bei der Vorbeugung gegen religiösen Extremismus versagt?

Özoguz:

Letztes Jahr haben wir noch gefragt, ob der Staat beim Thema Rechtsextremismus versagt hat. Heute fragen wir, ob Deutschland bei der Prävention von religiösem Extremismus versagt hat. Ich halte nichts von diesem Pingpongspiel.

Aber Dschihadisten reisen aus Deutschland in den „Heiligen Krieg“.

Özoguz:

Was einige Salafisten derzeit in Deutschland treiben, beobachten die Sicherheitsbehörden schon seit zehn oder 15 Jahren. Doch das Agieren dieser Extremisten hat damals nicht Mord und Totschlag mit sich gebracht. Was bei uns in Deutschland zu kurz kommt, ist eine Solidarisierung der Gesellschaft mit Moschee-Verbänden, die sich gegen Islamisten zur Wehr setzen. In all den Jahren haben Muslime immer wieder gewarnt: In unsere Moscheen kommen radikale junge Männer und sprechen unsere Jugendlichen an. Hier müssen auch die deutschen Sicherheitsbehörden enger mit den Moschee-Verbänden zusammenarbeiten. Ich wundere mich manchmal, was der Verfassungsschutz so verlautbart und worüber er schweigt.

Was meinen Sie?

Özoguz:

Ich wünsche mir mehr Klarheit über die Angaben des Verfassungsschutzes, etwa über die Anzahl der gewaltbereiten Islamisten in Deutschland. Die Angaben der Nachrichtendienste variieren zu häufig.

Kritiker sagen: Sie seien als Integrationsministerin zu höflich. Zu still. Wann hauen Sie mal auf den Tisch?

Özoguz:

Ich finde, es ist erst einmal ein Kompliment, dass ich höflich bin. Aber ich bin mir im Klaren darüber, dass die Medien vor allem auf die lauten Politiker hoffen. Mir kommt es auf Ergebnisse an. Mir ist wichtig, dass aktuell etwas bei der Flüchtlingspolitik passiert: So haben wir in der Bundesregierung etwa dafür gesorgt, dass die Abschlüsse von Flüchtlingen in Deutschland schneller anerkannt werden und sie nach drei Monaten arbeiten dürfen. Zudem erhalten junge Menschen eine Förderung für eine Ausbildung. Bei der Akzeptanz von Asylsuchenden ist Deutschland viel weiter als vor 20 Jahren.

Viele EU-Staaten leisten zu wenig.

Özoguz:

Das Ziel der EU muss es sein, langfristig die gefährlichen Fahrten der Flüchtlinge über das Mittelmeer zu verhindern. Den Weg, syrische Flüchtlinge aus der Region über Kontingente aufzunehmen, ist richtig. Ich wünschte, das würden mehr EU-Staaten machen. Ich werde zur EU-Flüchtlingspolitik nächste Woche auch in Rom sprechen. Zudem müssen wir darüber diskutieren, ob wir Einwanderungskorridore schaffen, für diejenigen, die nicht vor Krieg und Verfolgung flüchten, also keine politisch Verfolgte sind. Auch wenn es in diesen Tagen ungewöhnlich klingt: Deutschland braucht Einwanderung. Unsere Gesetze machen es grundsätzlich schon möglich, dass qualifizierte Menschen beispielsweise aus Afrika nach Deutschland einreisen, um hier zu arbeiten. Über diese Möglichkeit muss dringend besser informiert werden.

Die Bundesländer sind mit den Flüchtlingen überfordert. Muss der Bund mit Geld für Flüchtlingsheime helfen?

Özoguz:

Die Unterbringung bleibt in der Hand der Länder und Kommunen. Dennoch muss der Bund sich bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs stärker finanziell beteiligen. Beispielsweise bei der medizinischen Versorgung. Die Schweden leisten bereits eine hervorragende Flüchtlingspolitik. Aber 18 EU-Staaten beteiligen sich so gut wie gar nicht. Viele Flüchtlinge sind in der Notlage, Tausende Kilometer nach Europa fliehen zu müssen. Deshalb ist es wichtig, dass die EU die Anrainerstaaten zu Syrien wirksam unterstützt. Deutschland hat vergangene Woche zusätzliche 500 Millionen Euro zugesagt.