In der vergangenen Woche wurden Razzien in zwei Bezirksämtern druchgeführt. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Fall Yagmur löst nun Befremden über Chefankläger Lutz von Selle aus.

Hamburg. Nein, Fehler habe es seitens der Ermittlungsbehörde nicht gegeben. So oder so ähnlich ließ es Generalstaatsanwalt Lutz von Selle in den Wochen nach dem gewaltsamen Tod der dreieinhalb Jahre alten Yagmur mitteilen. Dass sie auch weiterhin möglichst keine Fehler machen, dazu braucht der als Hardliner verschriene Hamburger Chefankläger seine Staatsanwälte nicht anzutreiben. Sie wissen auch so, dass der „General“ gerade bei öffentlichkeitswirksamen Fällen immer ein Auge mit drauf hat. Und so wundert es kaum, dass sich seine Behörde, wie in dieser Woche bekannt wurde, mittels Razzien in den Bezirksämtern Eimsbüttel und Mitte den Zugriff auf Personalakten städtischer Mitarbeiter sicherte.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt nämlich auch gegen Mitarbeiterinnen der Jugendämter. Im Raum steht der Vorwurf der fahrlässigen Tötung der Dreijährigen durch Unterlassen. Es geht auch um die Frage, ob sie wissen konnten, dass das Kind in seiner Familie gefährdet war. Yagmur ist in ihrem kurzen Leben schwer misshandelt worden, sie starb am 18. Dezember 2013 an den Folgen der Verletzungen. Ihre Mutter muss sich deshalb wegen des Vorwurfs des Mordes vor Gericht verantworten, ihr Vater ist wegen Körperverletzung mit Todesfolge durch Unterlassen angeklagt.

Es steht außer Frage, dass das komplette Hilfesystem im Fall Yagmur versagt hat. Neben der strafrechtlichen Aufarbeitung ermittelt derzeit auch ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss (PUA). Im Rathaus aber ist die Verwunderung über die durch die Staatsanwaltschaft erwirkten Durchsuchungsbeschlüsse groß. Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher und Obmann der CDU-Bürgerschaftsfraktion im PUA, sagt: „Dass die Staatsanwaltschaft erst acht Monate, nachdem Yagmur zu Tode geprügelt wurde, öffentliche Dienststellen im Rahmen einer Razzia durchsucht, wirft einige Fragen auf: Warum werden fehlende Akten nicht einfach wie üblich angefordert?“ Es ist die richtige Frage. Aus dem Umfeld der zuständigen Bezirksamtsleiter, die in der kommenden Woche vor dem PUA aussagen werden, heißt es, dass man die gewünschten Akten ohne Weiteres übergeben hätte – ohne Durchsuchungsbeschluss und auf dem normalen Dienstweg.

Laut Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft, bedarf es für die Übermittlung solcher Daten aber eines gerichtlichen Beschlusses. Dass ihre Behörde ein derart hartes Mittel einsetzt, dafür gibt es wohl auch einen anderen guten Grund: den General. Mit seiner Pedanterie eckt von Selle ein ums andere Mal an. Er lässt schon mal gegen Richter ermitteln. Mit der Polizei steht er auf Kriegsfuß und hält seine eigenen Leute an der kurzen Leine. „Der General stellt kein Verfahren ein“, heißt es in der Behörde. Wer das dennoch tut, anstatt „durchzuverhandeln“, der muss sich rechtfertigen. Nicht auszudenken also, was los gewesen wäre, hätte es Lücken in den auf dem normalen Dienstweg übermittelten Personalakten gegeben.

Das Kopfschütteln aufseiten der Parlamentarier ist auch deshalb so groß, weil die Staatsanwaltschaft aus Sicht der Politiker nicht immer mit dem gleichen Ermittlungseifer vorgegangen ist. Nachdem Yagmur nämlich mit lebensgefährlichen Verletzungen in einem Krankenhaus behandelt wurde, hatte die damalige Staatsanwältin darauf verzichtet, die leibliche Mutter des Mädchens persönlich zu vernehmen. „Auf der einen Seite wird im Fall Yagmur nur Dienst nach Vorschrift gemacht, auf der anderen holt man mit den Durchsuchungen auf einmal die ganz großen Kanonen hervor“, sagt der PUA-Vorsitzende André Trepoll (CDU).

Christiane Blömeke, die grüne Obfrau im Untersuchungsausschuss meint, die Staatsanwaltschaft würde es sich zu einfach machen, wenn sie die Verantwortlichkeit allein in den Jugendämtern suchen würde. „Ich gebe mich nicht damit zufrieden, dass das Handeln der Staatsanwältin und der Familienrichterin zu den Akten gelegt wird“, sagt Blömeke mit Blick darauf, dass die Staatsanwaltschaft zwar Verfahren gegen Jugendamtsmitarbeiterinnen führt, aber nicht gegen die mit dem Fall betrauten Juristinnen.

De Vries sagt sogar: „Man kann den Eindruck gewinnen, dass bei den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen nicht mit gleichem Maß gemessen wird getreu dem Motto: ‚Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.‘ Und es drängt sich der Eindruck auf, dass frühere Versäumnisse, die mit ursächlich sind für den späteren Tod Yagmurs, nun durch unverhältnismäßiges Handeln kompensiert werden sollen.“

Melanie Leonhard, Jugendpolitikerin der SPD, kann sich angesichts der Razzien einen ironischen Unterton nicht verkneifen. „Ich bin froh, dass nun offenbar ordentlich und umfassend ermittelt wird“, sagt sie mit Blick auf die zurückhaltende Ermittlungsarbeit nach den lebensgefährlichen Verletzungen Yagmurs. Sie geht davon aus, dass die Staatsanwaltschaft die Personalakten der Jugendamtsmitarbeiterinnen auch auf einem normalen Dienstweg bekommen hätte. „So engagiert wie in diesem Fall wurde das Verfahren nicht immer geführt.“

Zumindest in einem Punkt gibt es keinen Dissens zwischen Ermittlern und Untersuchungsausschuss: Die Staatsanwaltschaft erhält Einblick in die Akten des PUA. Das wird der Untersuchungsausschuss am kommenden Donnerstag so beschließen. Dafür bedurfte es nur eines förmlichen Anschreibens. Eine Razzia in den Räumen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses – solche Schlagzeilen wollten sich die Ermittler des Generalstaatsanwalts Lutz von Selle dann wohl doch ersparen.

Sascha Balasko ist landespolitischer Redakteur beim Abendblatt