Studie von Gerichtsmediziner Püschel fordert regelmäßige Betreuung durch Psychiater

Hamburg. Kirsten P. ist die vorerst Letzte. Beim Aufschluss um 6 Uhr morgens entdeckten Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand die Leiche der 43-jährigen Frau. Kirsten P. hatte sich in der Nacht zum 6. November 2013 mit einem Bettlaken am Fensterkreuz ihrer Haftzelle erhängt. Am Tag zuvor war sie aus dem offenen Vollzug in Glasmoor (Schleswig-Holstein) auf die Elbinsel verlegt worden, weil ihr neue Straftaten vorgeworfen wurden, die sie während der Vollzugslockerungen begangen haben soll. Kirsten P. verbüßte eine fünfjährige Freiheitsstrafe wegen Betrugs. Das Strafende war auf Mai 2017 datiert.

Nach jedem Suizid hinter Gittern müssen sich alle Beteiligten die Frage stellen, ob der Freitod hätte verhindert können. Hätte man die Gefährdung erkennen müssen? Hätte eine bessere Beobachtung und Kontrolle des Gefangenen sein Leben retten können? Ähnlich wie Ausbrüche oder gar Knastrevolten können auch Suizide in Haftanstalten schnell politische Bedeutung erhalten – dann nämlich, wenn Versäumnisse deutlich zutage treten.

Im Frühjahr 2012 brachten sich im Laufe von nur gut vier Wochen drei Häftlinge um – zwei in der Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis, einer in Fuhlsbüttel. Bei Justizsenatorin Jana Schiedek schrillten die Alarmglocken. Die SPD-Politikerin beauftragte Prof. Klaus Püschel, den Leiter der Rechtsmedizin am UKE, „die Ursachen und Umstände aller Todesfälle der vergangenen Jahre im Hamburger Strafvollzug umfassend zu untersuchen ... und mögliche strukturelle Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen“.

Dem Abendblatt liegt der Bericht vor, den Püschel gemeinsam mit Prof. Peer Briken, dem Direktor des UKE-Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, verfasst hat. „Eine für Hamburg besonders prominente oder gar spezifische Problemsituation kann zurzeit nicht festgestellt werden“, lautet das Urteil der Wissenschaftler. Es gebe immer wieder Häufungen mehrerer Selbstmorde innerhalb kurzer Zeit („Cluster“), „da Berichte und Diskussionen über diese Fälle leider auch zu einer gewissen Nachahmungstendenz führen“.

Die drei Todesfälle des Jahres 2012 lägen etwa im langjährigen Durchschnitt von 2,4 Taten. „Die eigene Einschätzung geht dahin, dass keineswegs ein skandalöser Vorgang vorliegt und dass Schuldzuweisungen damit sehr fragwürdig wären“, so Püschel und Briken. Der Stadtstaat bewege sich, was die Häufigkeit von Selbsttötungen hinter Gittern angehe, im nationalen und internationalen Durchschnitt.

Von 1996 bis 2012 haben sich 41 Gefangene in Hamburg umgebracht – darunter nur zwei Frauen. Schon einmal, 1998, hatte Püschel die Selbstmorde im Hamburger Strafvollzug untersucht. Von 1962 bis 1995 gab es danach 120 Suizide, 21 Drogentodesfälle und sechs Tötungsdelikte. Im Jahresdurchschnitt seit 1962 wurden 3,5 Suizide registriert. Fast 90 Prozent der Gefangenen haben sich erhängt – das ist heute nicht anders. „Strangulationsmittel waren meist Teile der Bettwäsche oder der Kleidung, seltener ein Strick, Gürtel oder Elektrokabel“, schrieb Püschel 1998. In vier von fünf Fällen war der „Aufhängepunkt“ das Zellenfenster.

Die größte Suizidgefährdung bestand in der Untersuchungshaftanstalt (52 Prozent der Fälle). „Speziell auch bei Suizidversuchen kommt es zu einer unbedingt beachtenswerten Häufung von Fällen ganz am Anfang der Untersuchungshaft“, schreiben Püschel und Briken. Verantwortlich seien „Unsicherheit und massiver Stress in dieser Phase sowie impulsives Handeln als Reaktion auf Scham und Schuldgefühle“. Hinzu kommen vielfach negative Faktoren, die das Suizidrisiko erhöhen: fehlende familiäre Bindung, negative Lebensbilanz, besonders schwere Straftaten wie Morde oder Sexualdelikte sowie Alkohol- oder Drogenabhängigkeit.

Püschel und Briken konzentrieren ihre Vorschläge auf die U-Haft. Der Forderung nach einem „vollzeitig vor Ort ... angesiedelten Facharzt für Psychiatrie“ will die Justizbehörde zumindest zum Teil nachkommen. Zum 1. Juli soll die psychiatrische Präsenz am Holstenglacis von derzeit 7,5 auf immerhin 20 Stunden pro Woche ausgedehnt werden. Die Zusammenarbeit mit externen psychiatrischen Abteilungen etwa im Klinikum Nord soll verstärkt werden.

Zentrale Bedeutung kommt dem Aufnahmegespräch zu. Hier sollen spezielle Screening-Methoden angewendet werden, bei denen gezielt nach früheren Suizidversuchen, entsprechenden aktuellen Gedanken und der psychischen Verfassung gefragt wird. Um dem langen Einschluss in Einzelhaft, die als besonders suizidgefährdend gilt, etwas entgegenzusetzen, sind fünf Freizeiträume entstanden, in denen die Häftlinge Tischtennis und Kicker spielen können. Seinen Dienst angetreten hat bereits ein Sportbeamter, der zahlreiche Sportgruppen, aber auch Einzelbetreuung für diejenigen anbietet, die nicht mit anderen Gefangenen zusammenkommen dürfen.

„Ausschließen lassen sich tragische Kurzschlusshandlungen nie“, sagt Justizsenatorin Schiedek. Durch eine Vielzahl von Maßnahmen lasse sich die Gefahr aber erheblich reduzieren. „Hier hat der Bericht für uns sehr wertvolle Hinweise geliefert. So konnten wir uns in einer Reihe von Punkten noch einmal verbessern“, so Schiedek.

Gegen Selbstmorde im Gefängnis gebe es „kein Patentrezept“, betonen auch Püschel und Briken. „Um es sehr überspitzt auszudrücken: Suizide im Gefängnis kann man einerseits dadurch verhindern, dass man Menschen gar nicht erst einsperrt“, schreiben die Autoren. Die andere Möglichkeit sei, dass Gefangene „vollständig überwacht oder stets fixiert“ werden. Beide Varianten kämen nicht in Betracht.

Letztlich ist der menschliche Faktor entscheidend: Ein Psychologe und ein stellvertretender Abteilungsleiter hatten auch mit Kirsten P. ein ausführliches Aufnahmegespräch geführt, da sie sichtlich aufgewühlt war. Doch konnten die beiden keine Suizidgefährdung erkennen. Kirsten P. kam ohne Beobachtung in einen regulären Haftraum – und war am nächsten Morgen tot.