„Xaver“ bringt extrem kräftige Böen und viel Regen. Meteorologen messen auf Sylt Windgeschwindigkeiten von 185 km/h. Mindestens acht Verletzte.

Hamburg/Kiel/Bremen. Es ist 9.21 Uhr, als die MeteoGroup Deutschland über Twitter aus Hörnum auf Sylt die erste orkanartige Böe meldet. „Xaver“ ist zu diesem Zeitpunkt bereits der meistgenutzte Suchbegriff in den Onlinediensten am Donnerstagmorgen.

Gut zwei Stunden vorher hatte der Deutsche Wetterdienst seine Warnungen bereits auf die gesamte deutsche Nordseeküste ausgedehnt. Für sie werden Orkanböen mit einer Geschwindigkeit von bis zu 190 km/h vorhergesagt. Zur gleichen Zeit hatte der Flughafen auf Sylt den ersten Flug in Deutschland gestrichen: „Wegen des erwarteten Sturmes ist der Flug AB6881 nach Düsseldorf annulliert.“

In der Nacht zum Donnerstag hatten Hilfskräfte entlang der Küste sowie auf den ost- und nordfriesischen Inseln Deiche und Hafenanlagen gesichert sowie besonders überflutungsgefährdete Gebäude in Ufernähe versucht, sturmfest zu machen. In den Landkreisen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden die Schulen geschlossen, im Laufe des Tages werden viele weitere öffentliche Einrichtungen im Norden wie zum Beispiel das Stadtbad in Neumünster wegen des Sturms für mindestens zwei Tage geschlossen. Auch eine für Freitag um 8 Uhr angesetzte Bombenentschärfung in Kiel-Meimersdorf muss verschoben werden – die Räumung des Stadtteils wäre für die Bewohner zu gefährlich.

Insgesamt sind weit mehr als 100.000 Feuerwehrleute und freiwillige Helfer alarmiert, allein im nördlichsten Bundesland sind 50.000 Menschen einsatzbereit. Um 10.05 Uhr verlässt der letzte Sylt-Shuttle das Festland Richtung Westerland. Fünf Minuten später werden über der Lieblingsinsel der Deutschen Böen der Stärke 7 gemessen. 23 Minuten später ist „Xaver“ dann auf den Halligen und an der Nordseeküste endgültig angekommen – und für die Nacht zum Freitag sagten die Meteorologen Windstärken von 10 bis 11 voraus.

Während der SV Werder Bremen sein Nachmittagstraining auf den Vormittag vorzieht – das Bundesliga-Spiel gegen Bayern München am Sonnabend im Weserstadion ist gefährdet –, werden auf den ostfriesischen Inseln sämtliche Deichdurchgänge vorsichtshalber geschlossen. Gegen Mittag ist Cuxhaven offenbar die einzige norddeutsche Küstenstadt, in der nicht die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm herrscht. Der Deichverband rechnet in der Nacht zum Freitag mit einer schweren Sturmflut. Sie soll laut der aktuellen Sturmflutwarnung bei 3,50 Meter über dem normalen Hochwasserpegel liegen. Der Fährbetrieb nach Juist und Norderney wird eingestellt, in Schleswig-Holstein kommt es zu ersten Zugverspätungen. Ab dem frühen Nachmittag fahren keine Fernzüge der Bahn mehr, auch die Nord-Ostsee-Bahn (NOB) stellt den Zugverkehr zwischen Altona und Niebüll ein.

Mittags fegt „Xaver“ mit solcher Wucht über Sylt, dass sich niemand mehr nach draußen traut. Das gleiche Bild – menschenleere Straßen – bietet sich auch Abendblatt-Reporter André Zand-Vakili in Büsum: Direkt an der Küste peitscht der Wind in mächtigen Böen auf das Festland. Regen wird quer durch die Luft getrieben. Trifft er einen im Gesicht, ist es mit so einer Wucht, dass jeder Tropfen wie Nadelstiche schmerzt. Nur vereinzelt fahren Autos. Aus blauen Tonnen, deren Deckel hochschlagen, fliegen Papierreste. Ein Pärchen, dass sich trotz der Warnungen auf den Deich getraut hat, kann sich kaum auf den Beinen halten.

„Im Oktober war es genauso schlimm“, sagt Martin Umland, 79, der vor seiner Pension in Büsum einen Werbekasten mit Band sichert, dessen Tür vom Sturm aufgerissen wurde. „Davor gab es so was lange nicht“, sagt er. „1979 hatten wir auch so einen Sturm.“

Im Hafen von Büsum tanzt ein an der Kaimauer festgemachtes Segelboot wie ein Korken auf dem Wasser. Selbst hier im Hafenbecken, das durch eine Schleuse geschützt ist, peitscht der Orkan das Wasser so auf, dass sich Wellen mit Gischt bilden.

Am knapp 20 Kilometer entfernten Eidersperrwerk haben sich Schaulustige gesammelt. Sie schauen sich an, wie vor dem Sperrwerk die Wellen brechen. Mitarbeiter der Anlage schließen den schmalen Weg direkt oberhalb der Sperrwerkstore. Es ist so windig, dass es zu gefährlich wäre, dort Menschen spazieren gehen zu lassen. Jeder Schritt gegen den Wind kostet Kraft.

Der Regen wird durch jede Ritze der Kleidung gepresst. Wer nicht professionelle Schutzkleidung trägt, ist in wenigen Minuten durchnässt. „Es hat sich trotzdem gelohnt“, sagt Joachim Kinkel, der mit einem Freund zum Sperrwerk gekommen war. „So was erlebt man sonst nie.“

Seit 14 Uhr sind in Kiel alle Bildungseinrichtungen, Kindergärten und die Verwaltung geschlossen. Am Freitag soll der öffentliche Dienst nur mit einer Notbesetzung laufen. Um 14.22 Uhr meldet der Bürgermeister von Hooge, dass seine „Hallig vollgelaufen sei“. Kurze Zeit später ruft der Kreis Pinneberg den Ausnahmezustand aus. In Nordfriesland machen sich um 16 Uhr 300 Experten auf den Weg, um die Deiche auf Schwachstellen zu überprüfen. Um 16.09 Uhr steht fest: Die schleswig-holsteinische Nordseeküste hat die erste schwere Sturmflut im Zuge von Orkantief „Xaver“ nach ersten Behördeneinschätzungen wohl glimpflich überstanden. „Bisher wurden uns keine größeren Schäden gemeldet“, sagt der Direktor des Landesbetriebs für Küstenschutz, Johannes Oelerich, am Nachmittag. Kleinere Schäden an Deichen seien allerdings aufgetreten. „In Husum stand das Wasser um 15.30 Uhr um 3,06 Meter über dem mittleren Hochwasser. Erwartet worden waren 2,5Meter.“

Um 16.23 Uhr wird auf Helgoland die Düne geräumt und der Schiffsverkehr eingestellt. Um 16.43 meldet der THW-Landesverband Bremen/Niedersachsen: „90 Helfer sind im Einsatz, die vor allem in und um Cuxhaven und Bremerhaven Sandsäcke füllen und Deiche sichern.“ Die sturmflutgefährdete Ortschaft Saalenburg erhält von Cuxhaven 80 sogenannte Bigpack-Sandsäcke zur Verstärkung der Deiche. Um 16.54 Uhr wird eine Sperrung auf der A7 nach einem Unfall durch umgestürzte Bäume aufgehoben. Wegen weiterer entwurzelter Bäume seien immer wieder kurzfristige Sperrungen möglich, sagte ein Polizeisprecher. Bei dem Unfall in Höhe Tarp bei Flensburg war ein Baum auf einen Lastwagen gestürzt. Der Fahrer blieb unverletzt.

Von 17.20 Uhr an ist dann auch der Nord-Ostsee-Kanal geschlossen. Wegen des extremen Hochwassers wurden die Schleusen in Brunsbüttel und in Kiel Holtenau bis auf Weiteres gesperrt. Die Schleusen des Kanals haben bei Sturmflut die Funktion von Deichen und werden ab einem Wasserstand von acht Metern geschlossen.

In Bremen fallen plötzlich Teile der Straßenbeleuchtung aus. Die Lage in Cuxhaven ist angespannt, die Flut ebbt einfach nicht ab. Das heißt, dass die zweite Sturmflut, die gegen 2.30 Uhr erwartet wird, zum jetzigen Pegelstand der ersten Flut hinzugezählt werden muss. In der Region Hannover gab es Schäden und Verletzte: Bei Barsinghausen wurde ein Kleinbus mit behinderten Schülern von einer starken Windböe erfasst und in einen entgegen kommenden Wagen gedrückt. Dabei wurde ein 68-Jähriger schwer verletzt, sechs weitere Menschen leicht.

In Schleswig-Holstein hat die Polizei bis zum Abend mehr als 200 Sturmeinsätze registriert. Ein Zug der AKN fuhr in Elmshorn gegen einen umgestürzten Baum. Der Zugführer wurde verletzt. In Thaden (Kreis Rendsburg-Eckernförde) schlug ein Blitz in ein Reetdachhaus ein, das niederbrannte. Der Deutsche Wetterdienst warnte um 19 Uhr vor Orkanböen an der Nordseeküste mit mehr als 140 km/h. Gegen 21 Uhr meldete ARD-Meteorologe Karsten Schwanke per Kurznachrichtendienst Twitter: „Das zweite Sturmfeld wird immer stärker: List/Sylt-Ellenbogen 185 km/h!“