Schulpolitische Auseinandersetzung über das „Turbo-Abi“ in der Bürgerschaft. Schulsenator hält nichts von der Rückkehr zur alten Regelung.

Manchmal ist die politische Welt klein, im Stadtstaat bisweilen sehr klein. Manchmal passt sie in ein Zimmer. Der schmucklose Raum 151 im Rathaus hat spannende Momente, abrupte Wendungen, politische und persönliche Dramen erlebt. Hier gingen Sterne am Politikhimmel auf oder zerfielen endgültig zu Staub (Ole von Beust und Ronald Schill zum Beispiel). Abgesehen vom Plenarsaal der Bürgerschaft direkt darüber ist der Raum 151, der Ort der Landespressekonferenz und vieler Ausschusssitzungen, die zweite politische Bühne der Stadt.

Wer ebendort am Donnerstagabend im Schulausschuss der Bürgerschaft saß, der konnte Akteure und Verantwortliche der heraufziehenden schulpolitischen Auseinandersetzung über das "Turbo-Abi" wie durch ein Brennglas beobachten. Unter den wenigen Zuschauern war Mareile Kirsch, die als seit Jahren engagierte Mutter jetzt die Petition zur Wiedereinführung des neunjährigen Bildungsgangs zum Abitur am Gymnasium (G9) gestartet hat. Ihren Online-Aufruf gegen das "Turbo-Abi" (G8) hatten am Freitag rund 2900 Menschen unterzeichnet. Kirschs Fernziel ist ein Volksentscheid.

Vor ihr saß Schulsenator Ties Rabe (SPD), der in dieser Woche deutlich gesagt hat, was er von der Rückkehr zur alten Regelung hält: nichts. Es wäre nun arg übertrieben zu behaupten, Mareile Kirsch hätte Rabe im Nacken gesessen, obwohl das im übertragenen Sinn nicht völlig verkehrt ist. An der Stirnseite des Raums 151 leitete mit Walter Scheuerl der Mann die Sitzung, der für viele noch immer der Held des erfolgreichen Volksentscheids 2010 gegen die Primarschule ist. Scheuerl, heute parteiloses Mitglied der CDU-Fraktion, unterstützt die G9-Initiative zwar, hat aber klar gesagt, dass er nicht ihr Gesicht sein will, sich also nicht als Vertrauensperson wie beim Primarschul-Volksentscheid an die Spitze stellen will.

Dann waren unter den Zuhörern zwei ehemalige Spitzenbeamte, die für die Einführung des "Turbo-Abis" 2002 mitverantwortlich waren: Reinhard Behrens, damals Schulstaatsrat und nach Schulsenator Rudolf Lange (FDP) die Nummer zwei der Behörde, sowie die langjährige CDU-Abgeordnete Ingeborg Knipper, damals Leiterin des Amtes für Bildung, die Nummer drei.

Das Kuriose: Es ging im Schulausschuss gar nicht um den Streit zwischen G8 und G9. Es ging um ein scheinbar nebensächliches und reichlich spezielles Thema: die äußere Differenzierung an der Stadtteilschule. Die CDU hält zwei nach Leistung getrennte Kurse in den Stadtteilschulen für erforderlich, weil die Kultusministerkonferenz das angeblich vorgibt. Die meisten Stadtteilschulen setzen dagegen auf Binnendifferenzierung: Alle sitzen in einer Klasse, sollen aber individuell gefördert werden. Rabes Schulbehörde lässt beide Wege zu und legt die Entscheidung in die Hände der einzelnen Schule.

Doch auf den zweiten Blick wird der Bezug zum Streit über die Schulzeit an Gymnasien deutlich: Die Stadtteilschulen bieten mit dem Abitur nach 13 Jahren die verlängerte Schulzeit ja schon an, die die Kirsch-Initiative nun auch für die Gymnasien fordert. Die Stadtteilschulen als zweite Säule des Schulsystems können auf Dauer nur eine glaubwürdige und erfolgreiche Alternative zum "Turbo-Abi" am Gymnasium sein, wenn sie leistungsstarke Schüler anziehen. Da können getrennte Kurse für leistungsstarke Jungen und Mädchen aus Sicht der Eltern ein Argument sein. Wer, wie der CDU-Schulpolitiker Robert Heinemann, die Rückkehr zu G9 am Gymnasium ablehnt, dem muss an starken, leistungsorientierten Stadtteilschulen gelegen sein.

Wie Heinemann halten auch Rabe und die regierende SPD am sogenannten Schulfrieden von 2010 fest, der die Schulstruktur mit dem Zwei-Säulen-Modell für zehn Jahre festgeschrieben hat. Rabe weiß natürlich, welche immensen planerischen und finanziellen Folgen die Abkehr vom "Turbo-Abi" hätte: Sämtliche Baumaßnahmen an Gymnasien müssten wieder überarbeitet werden, weil mehr Klassen unterzubringen wären. Außerdem müssten die Bildungspläne zum wiederholten Mal umgeschrieben werden.

Senat und SPD haben sich mit Blick auf die G9-Initiative intern auf die Parole verständigt: "Beobachten, ernst nehmen, aber kein Grund zur Panik!" Unter allen Umständen wollen die Sozialdemokraten die Fehler des schwarz-grünen Senats vermeiden. Die damalige Schulsenatorin Christa Goetsch (Grüne) hatte Bedenken von Eltern gegen die Primarschule weggewischt und stur an ihrem Kurs festgehalten, bis es für Kompromisse zu spät war. In der Schulbehörde wird schon an Überlegungen gearbeitet, wie die verkürzte Schulzeit am Gymnasium "entstresst" werden kann. Dazu zählt eine bessere Verteilung der Klausuren, die sich bislang manchmal innerhalb weniger Wochen häufen. Auch eine kritische Überprüfung, welche und wie viele Hausaufgaben wann nötig sind, gehört in den Katalog. Offensichtlich haben auch längst nicht alle Gymnasien die Rhythmisierung des Schultags zum Beispiel durch Einführung von Doppelstunden verändert. Dadurch müssen die Schüler sich auf weniger Fächer pro Tag vorbereiten.

Die CDU ist in einer schwierigen Lage: Als sie mit Ole von Beust den Ersten Bürgermeister stellte, wurde das ungeliebte "Turbo-Abi" überstürzt eingeführt. Es fällt der Union also schwer, sich von ihrer eigenen Reform zu verabschieden. Andererseits wirkt das Primarschul-Trauma in der Partei nach, weil sich die CDU damals an der Seite der Grünen gegen große Teile ihrer Basis und ihrer Wählerschaft stellte und letztlich mit dem Machtverlust dafür bezahlt hat. Auch die jetzige Initiative kommt aus der bürgerlichen Mitte, dem klassischen CDU-Reservoir.

Scheuerl wird der Union schon Dampf machen. Und wo wurde sein großer Triumph - das Aus der Primarschule per Volksentscheid - bekannt geben? In jenem schmucklosen Raum 151, in dem am 18. Juli 2010 das "Wahlzentrum" untergebracht war.