Laut Präses Fritz Horst Melsheimer sei die Politik “handlungsunfähig“ und “gelähmt“. Parlamentspräsidentin weist Vorwürfe zurück.

Hamburg. Handelskammer-Präses Fritz Horst Melsheimer hat die Politik als "handlungsunfähig" und "gelähmt" kritisiert. Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) nimmt dazu Stellung.

Hamburger Abendblatt: Hat sich die Bürgerschaft entmachtet?
Carola Veit: Ein klares Nein, die Kritik kann ich nicht verstehen oder teilen.

Die direkte Demokratie ist stark ausgebaut worden - Stichwörter Volks- und Bürgerentscheide. Handelskammer-Präses Fritz Horst Melsheimer sieht darin eine Lähmung des Parlaments. Inwiefern fühlen Sie sich als Abgeordnete gelähmt?
Veit: Ganz und gar nicht. Es ist unser erklärtes Ziel und auch so vom Volk gewollt gewesen, dass wir Bürgerbeteiligung und Partizipation ausbauen. Ich sehe darin keine Lähmung der Bürgerschaft, sondern eher eine Stärkung. Manche Kritiker tun so, als ob wir uns anarchischen Zuständen gegenüber sehen, mit denen wir als Parlamentarier nicht klarkommen. Es gibt doch geregelte Verfahren, die festlegen, wie Parlament und Initiativen miteinander im Dialog sind. Wir können dem als Parlament gelassen gegenüberstehen.

Beispiel Rückkauf der Energienetze: Im Zweifel muss die Stadt zwei Milliarden Euro für den Erwerb ausgeben. Über eine solche Frage soll nicht das Parlament, sondern die Bürger per Volksentscheid abstimmen. Ist das richtig?
Veit: Erst einmal muss das Verfassungsgericht klären, ob dieser Volksentscheid angesichts der großen Haushaltsbedeutung überhaupt zulässig ist. Aber das ist eben so: Es geht bei der direkten Demokratie auch um große Brocken. Der Streit über die Primarschule war auch kein kleines Thema und wurde per Volksentscheid entschieden.

Finden Sie es richtig, dass über Ausgaben in Höhe von zwei Milliarden Euro nicht die vom Volk gewählte Bürgerschaft entscheidet, die das Budgetrecht hat?
Veit: Für das Haushaltsrecht der Bürgerschaft wäre eine solche Entscheidung schwierig. Wenn das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass ein solcher Eingriff in den Haushalt durch einen Volksentscheid nicht mehr gedeckt ist, kann ich das durchaus begrüßen. Dann gäbe es eine klare Grenze. Die Bürgerschaft muss handlungsfähig bleiben.

Und wenn das Verfassungsgericht den Volkentscheid erlaubt?
Veit: Dann werden wir eine Diskussion darüber führen müssen, wie wir mit unserem Landeshaushalt umgehen, denn irgendwann würde zum Beispiel die Einhaltung der Schuldenbremse schwierig. Aber wir haben bis zur Bundestagswahl auch Zeit, für unsere Meinung zu werben. Dazu sind alle Interessierten aufgerufen, nicht nur das Parlament, sondern etwa auch die Handelskammer mit ihrer klaren Position.

Kann es sein, dass gut organisierte Lobbygruppen besonders erfolgreich sind bei der Nutzung der Volkgesetzgebung?
Veit: Ja, das stimmt. Aber es sind keineswegs immer die gleichen Gruppen - denken Sie an die erfolgreichen Initiativen für eine bessere Kinderbetreuung oder gegen die Schulreform. Dass ein Teil der Vertreter der Transparenzgesetz-Initiative auch bei anderen Initiativen erfolgreich war, ist richtig. Der Verein Mehr Demokratie hat zum Beispiel auch das neue Wahlrecht oder die Änderungen bei der Volksgesetzgebung mit durchgesetzt. Das ist natürlich ein Machtgewinn für Leute, die bereit sind, sich außerhalb der Gremien auf den Weg zu machen.

Die Bürgerschaft geht die Frage nach Einführung von Mindestteilnahmehürden, den Quoren, bei Bürgerbegehren auf Bezirksebene nicht an, obwohl es eine Mehrheit dafür gibt. Der Grund liegt in der Sorge, dass Mehr Demokratie die Quoren in einem Volksentscheid wieder kippen könnte. Kuscht die Bürgerschaft vor Mehr Demokratie?
Veit: Nein, wir machen das nicht aus Sorge vor Mehr Demokratie, sondern eher aus Sorge davor, dass wir für unsere Position zurzeit keine Mehrheit in der Stadt haben. Wir sind das Bundesland mit der am weitesten entwickelten direkten Demokratie. Wir möchten uns als Bürgerschaft nicht vorwerfen lassen, dass wir das zurückdrehen wollen.

Trotzdem: Sollte die Bürgerschaft Quoren auf Bezirksebene einführen?
Veit: Nur dann, wenn möglichst alle Fraktionen dieser Meinung sind und wir glauben, dass wir dafür auch eine Mehrheit in der Stadt haben.

Was ist das denn für ein Selbstbewusstsein eines Parlaments?
Veit: Ein ganz vernünftiges. Hier geht es nicht um irgendein Thema. Fragen direkter Demokratie wollen wir nicht gegen das Volk entscheiden. Das ist nicht Angst oder vorauseilender Gehorsam, sondern Verantwortung und Respekt.

Ist das noch politische Führung?
Veit: Ja, politische Führung kann auch heißen, abwarten zu können und Entscheidungen dann zu treffen, wenn möglichst viele damit zufrieden sind.

Die Kammer kritisiert, dass kleine Interessengruppen große Projekte blockieren können, etwa ein Neubauvorhaben in Langenhorn. Inwiefern stimmen Sie zu?
Veit: Das ist das Tagesgeschäft von Abgeordneten. Wir sind ständig eher mit Menschen konfrontiert, die gegen etwas sind, als solchen, die für etwas kämpfen. Auch Bürgerbegehren sind fast immer gegen irgendetwas. Natürlich ist es nicht schön, wenn sich wie in dem von Ihnen genannten Beispiel mutmaßlich Minderheiten durchsetzen. Aber das sind nur wenige Fälle, und das gehört zu dem Lernprozess dazu. Damit müssen wir umgehen.

Sind die Instrumente der direkten Demokratie vor allem etwas für die besser Ausgebildeten und besser Verdienenden?
Veit: Jedenfalls werden sie in den Stadtteilen, in denen vor allem diese Menschen leben, stärker genutzt. Das ist ja belegt. Und das ist auch ein Problem. Bei mir in Rothenburgsort wird wohl eher kein Bürgerbegehren zustande kommen. Das Protestpotenzial ist immer dort geringer, wo die Menschen andere Sorgen haben.

Das kann einer überzeugten Demokratin doch nicht gefallen?
Veit: Tut es auch nicht. Aber das ist kein Grund, gegen direkte Demokratie zu sein. Es ist die Aufgabe von Bezirks- und Landespolitikern, für einen vernünftigen Ausgleich zu sorgen, sodass nicht zu viele unbeliebte Einrichtungen wie Flüchtlingsunterkünfte oder Drogeneinrichtungen auf die Veddel oder nach Rothenburgsort kommen, nur weil sich die Bürger in Marienthal oder in den Walddörfern mittels direkter Demokratie besser zu wehren wissen.

Kritiker wie Melsheimer sagen, die direkte Demokratie sei anfällig für Populismus, hochkomplexe Themen würden verkürzt dargestellt. Wie kann die Bürgerschaft dagegen bestehen?
Veit: Verkürzte Darstellungen suggerieren meist, es gäbe nur Schwarz und Weiß. Unser Job ist es, abzuwägen, die Grauwerte zu vermitteln und den Menschen zu erklären, dass es bei vielen komplexen Problemen kein einfaches Richtig oder Falsch gibt. Daher wundert es mich auch, wenn Herr Melsheimer uns vorwirft, wir hätten das Transparenzgesetz durchs Parlament gepeitscht. Wir haben es ein halbes Jahr lang verhandelt, beraten und Experten angehört - öffentlich. Die Handelskammer hätte sich herzlich gern äußern können, hat aber darauf verzichtet. Wenn sie das Gesetz jetzt kritisiert, ist das Heldentum nach Ladenschluss.

Zurück zur Entmachtung, Stichwort Elbvertiefung: Frustriert es Sie, dass die Bürgerschaft nicht über diese existenzielle Frage entscheiden darf?
Veit: Die Hamburger Politik hat doch entschieden, sie ist für die Vertiefung.

Aber die letzte Entscheidung darüber liegt nach den Klagen der Umweltverbände beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.
Veit: Ja, richtig. Dennoch sind wir als Landesparlament entschieden, und auf diese Entscheidung folgte ein Planfeststellungsbeschluss der Behörden, und den darf man angreifen. Natürlich kann man wie die Handelskammer eine Diskussion darüber führen, ob die Kläger gegen diesen Beschluss sich eigentlich der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung der Elbvertiefung bewusst sind. Aber deshalb ist es doch keine Entmachtung des Parlaments.

Aber das letzte Wort hat das Parlament eben auch nicht.
Veit: Das ist Ausdruck unserer Gewaltenteilung. Es gibt ja eine Vielzahl von prominenten Fällen, in denen Gerichte politische Entscheidungen überprüft haben. Diese Macht haben deutsche Parlamente bewusst aus der Hand gegeben, davor habe ich großen Respekt.