Preisgekröntes Projekt “Family Literacy“ wird ausgedehnt und an 50 Einrichtungen angeboten

Den Telefonhörer konnte Gabriele Rabkin gestern kaum aus der Hand legen. Ständig riefen Leute in ihrem Büro an der Felix-Dahn-Straße in Eimsbüttel an, um ihr zu gratulieren - zum König-Sejong-Alphabetisierungs- und Integrationspreis der Unesco. Den mit 20 000 Euro dotierten und weltweit renommierten Preis bekommt das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung für Rabkins Programm "Family Literacy", kurz "Fly".

Als die Psychologin und Pädagogin von der Auszeichnung erfuhr, musste sie erst einmal richtig laut werden: "Ich fing vor Freude an zu kreischen", sagt sie. Jetzt ist es ihr ein bisschen peinlich. Die 59-Jährige ist ein bodenständiger, humorvoller Typ, die den Eltern, die beim Programm "Family Literacy" (sinngemäß Schreib- und Lesefähigkeit innerhalb der Familie) mitmachen, gern auf Augenhöhe begegnet.

Wie genau "Family Literacy" im Kita- und Schulalltag abläuft, hat das Abendblatt schon vor drei Jahren bei einem Besuch der Grundschule Kerschensteinerstraße in Harburg erlebt: 8.20.Uhr. Unterrichtsbeginn. "Es war einmal ein Hase mit einer ..." Anwar Abdulwahob gerät ins Stocken. Sie streicht sich über ihr Kopftuch und liest den Satz aus dem Bilderbuch in gebrochenem Deutsch noch mal vor. Angst, dass jemand über sie lachen könnte, hat die Irakerin nicht. Auch wenn sie etwas länger braucht, um die Wörter zu verstehen. "Mit einer roten Nase", flüstert ihr Akhil ins Ohr. Der Sechsjährige wirkt fast ein wenig stolz, seiner Mutter beim Vorlesen helfen zu können. Beim nächsten Versuch gelingt es Abdulwahob, die mit sieben anderen Müttern und 14 Vorschulkindern in einem Stuhlkreis sitzt, den Satz fehlerfrei vorzutragen. Mit einem zufriedenen Lächeln reicht die 34-Jährige die Lektüre an ihre Sitznachbarin weiter.

Für die Mütter, die aus Togo, Indonesien, dem Irak, der Türkei und auch aus Deutschland stammen, sind die ersten Schulstunden am Dienstag ebenso Unterricht wie für die Kleinen. Sie lesen gemeinsam, basteln kleine Bücher oder verfassen selbst das Ende einer Geschichte. 90 Prozent der teilnehmenden Eltern sind Frauen.

Seit 2004 sollen mit dem Projekt die Schreib- und Lesekompetenzen von Kindern und Eltern mit Migrationshintergrund und aus Familien mit wenig Bildung gefördert werden. Inzwischen ist die Methode, die in Großbritannien, den USA, in Israel oder in der Türkei schon lange gängig ist, auch in Hamburg anerkannt. Zurzeit wird sie an 33 Schulen und Kindertagesstätten in sozialen Brennpunkten angeboten. Im kommenden Jahr sollen es mehr als 50 Einrichtungen sein. Hamburg ist mit diesem Projekt auch bundesweit Vorreiter: Nordrhein-Westfalen, Berlin und das Saarland ziehen nach.

Kern der Methode ist das Lesen und Vorlesen. Eltern sollen in das Lernen ihrer Kinder mit einbezogen werden mit dem Ziel der Sprachförderung: "Wir führen Eltern und Kinder ganz niedrigschwellig an Bilderbücher heran", sagt Rabkin. Mindestens zehn Minuten am Tag sollen Eltern ihren Kindern etwas vorlesen. Denn in der Familie, erklärt die Erziehungswissenschaftlerin und Alphabetisierungsexpertin Maren Elfert, liegt der Ursprung von Bildung. Wenn Kinder zu Hause wenig Anregungen zum Lesen und Schreiben haben, kommen sie mit Defiziten in die Grundschule. "Diese sind kaum aufzuholen."

Wie wichtig die deutsche Sprache für die Integration ist, macht auch Hüsein Yilmaz, Vorsitzender der türkischen Gemeinde, deutlich: "Wenn die Eltern die deutsche Sprache beherrschen, können sie besser kommunizieren - auch mit den Lehrern."

Am 8. September, dem Welttag der Alphabetisierung, geht es für Gabriele Rabkin zur Preisverleihung nach Paris, vielleicht kommt ihr Chef, Institutsleiter Peter Daschner, auch mit. Das Ganze hat für die erfolgreiche Pädagogin einen Hauch von Hollywood: Über ihre Dankesrede hat sie gestern Morgen unter der Dusche nachgedacht.