Marcel wurde im Bus ins Koma geprügelt. Sein Leben geriet aus den Fugen - bis heute

Marcel ist zu Fuß gekommen. "Ist ja nicht so weit von zu Hause", sagt er ein bisschen verlegen, reicht die Hand, lächelt offenherzig und nimmt an einem Holztisch vor dem "Schweinske" in Lurup Platz. Über die Hauptstraße direkt vor dem Restaurant braust ein Metrobus 2. In dieser Linie war Marcel am frühen Morgen des 13. Februar 2010 Opfer einer Prügelattacke, die ihn beinahe das Leben gekostet hätte. Und die ihm immer noch schwer zu schaffen macht - nicht nur körperlich. "Seitdem sind Busfahrten eine Tortur für mich", berichtet der 19-jährige Auszubildende. Weil die Angst mitfährt. Immer noch. Sechs Wochen war Marcel krankgeschrieben. Zu intensiv haben sich die Szenen jenes Morgens in seine Seele eingegraben. Auch wenn er die grausamsten Exzesse der beiden Schläger in Ohnmacht erlebte und nur aus Erzählungen kennt. Jetzt begleiten Albträume seinen Alltag. Und das Leben droht aus den Fugen zu geraten. Finanzielle Sorgen kommen hinzu. "Ich kann immer noch sehr schlecht schlafen", flüstert Marcel und nippt an seiner Cola. Kopf- und Rückenschmerzen sind äußere Handicaps, schwerer wiegen die inneren: Angstgefühle, Schweißausbrüche und immer wieder diese fürchterlichen Erstickungsängste mitten in der Nacht. "Vielleicht", meint Marcel, "muss ich doch eine Therapie beginnen."

Recht ruhig erzählt er weiter. Dass er bisweilen Formulierungsprobleme hat und leicht stottert. Dass er Gegenden meidet, in denen sich Jugendliche aufhalten, die Alkohol oder Drogen nehmen und Passanten bepöbeln. Dass er sich, speziell bei Dunkelheit, nur höchst ungern auf der Straße aufhält und sich dort immer wieder umblickt. "Da werden Menschen wegen 50 Cent krankenhausreif geschlagen", sagt er, "und am Osdorfer Born beschimpfen einen schon die 13-Jährigen." Gedankenverloren stochert Marcel in seinen Bratkartoffeln. Bis sein Blick auf einen weiteren Bus der Linie 2 trifft. Wenn er partout an Bord muss und keinen Arbeitskollegen fndet, der ihn zum Arbeitsplatz nach Steilshoop mitnimmt, steigt Marcel ausschließlich vorne ein und wählt möglichst einen Sitz in den vorderen Reihen. Die Nähe des Fahrers suggeriert Sicherheit.

Marcel, der nach wie vor bei einer älteren Dame zur Untermiete wohnt und dort auch beköstigt wird, sehnt sich auch nach eigenen vier Wänden. Allerdings hat dieser Wunsch nur wenig mit dem Vorfall vom 13. Februar zu tun. Ebenso wie die Trennung von der ein Jahr älteren Freundin. "Wir haben uns auch vorher reichlich gefetzt." Dass sich der Traum von der Mietwohnung frühestens im Sommer erfüllen kann, ist ihm selbst klar. Am 11. Mai stand die Prüfung zum Einzelhandelskaufmann an - die ersten Zwischenergebnisse lassen hoffen. Eine Festanstellung danach würde mehr Geld bedeuten. Ein Job in einer Hafenfirma, das wäre es. Das Ende der Geldnot.

Zwar wurden zusätzliche Krankenhauskosten vom Weissen Ring übernommen, doch schlugen allein die Praxisgebühren mit 80 Euro zu Buche. Viel Geld für einen Lehrling, dem nach Abzug von Miete und Fixkosten kaum mehr als fünf Euro pro Tag zur freien Verfügung stehen. Große Probleme bereiten ihm die nach den Tritten notwendigen Zahnbehandlungen. Ein Kostenvoranschlag beläuft sich auf 1900 Euro, von denen die Krankenkasse etwa ein Drittel übernehmen will. "Nur woher soll ich 1300 Euro nehmen?", fragt sich Marcel.

Menschlich, das bestätigt Marcel, gab es bestärkende Erlebnisse. So wie den Polizeibeamten der Wache Bahrenfeld, der zur Tatzeit Dienst hatte und als Privatmann ins Krankenhaus kam. So wie der Weißss Ring, der von Anfang an kompetent zur Seite stand. So wie die Angestellte einer Parfümeriekette, die zur Aufmunterung ein kleines Päckchen schickte. Oder wie die Familie aus Norderstedt, die sich regelmäßig meldet und Unterstützung anbietet. Sei es mit einer Einladung zu einem Grillabend mit den eigenen Kindern oder durch ganz handfeste Unterstützung beim Behördenkram.

"Ich freue mich über die herzliche Hilfe", sagt Marcel. "Am liebsten aber stehe ich auf eigenen Beinen und schaffe mein Leben selbst." Gerne auch auf vier Beinen. Wenn eine Freundin Partnerin ist. Er habe die Augen offen, lege jedoch Wert darauf, dass eine solche Frau nicht aus dem Umfeld der zahlreichen Gangs im Stadtteil stamme und keinerlei Bezug zu Drogen habe. "Nicht ganz leicht zu finden", meint Marcel. Besonders nicht für einen jungen Mann, der erst am 16. Februar des vergangenen Jahres nach Hamburg kam und entsprechend wenig Kontakte hat.

Ein Bus nach dem anderen fährt am "Schweinske" vorbei. Schwer, die Gedanken auf eine neue Spur zu lenken. Marcel versucht es dennoch. Er erzählt von der Familie, die ursprünglich aus Hamburg kam. Vom Vater, den er nur einmal im Leben bewusst sah. Von der Mutter, die quasi aufs Land floh, um dort als Alleinerziehende besser klarzukommen. Begeistert berichtet der junge Mann von seiner Tierliebe, der Natur, vom Job der Mutter als Melkerin, vom ersten Taschengeld auf einem Trecker.

Alles brach zusammen, als die Mutter nach einem Blutgerinnsel im Kopf starb. Damals war Marcel 15 Jahre alt. Zuvor schon musste ein bester Freund im Alter von 13 Jahren nach einem Asthmaanfall beerdigt werden. Dem Tod der in jeder Beziehung nahestehenden Großmutter gingen massive Probleme während der Lehre voraus: "Ich fühlte mich ausgenutzt."

"In Hamburg hat alles so gut begonnen", sagt Marcel zum Schluss. "Ich habe nicht nach hinten geblickt, habe gekämpft und war recht weit oben." Und dann der Albtraum vom 13. Februar 2010. "Aufgeben jedoch werde ich auf keinen Fall." Wohl im Juli steht der Prozess mit Marcel als Nebenkläger an. Wenn er jene beiden Schläger zum zweiten Mal zu Gesicht bekommt, die ihn beinahe ermordet hätten. Hass verspüre er nicht. "Aber es ist feige, dass die beiden nach wie vor jede Aussage verweigern."

"Versuchter Totschlag", wird die Anklage lauten. Doch das ist nur ein Aspekt dieser Geschichte.