Das Quartier bietet alles, was St. Pauli hat. Tagsüber schön hamburgisch. Nachts erwacht die Szene mit Schwulen-Bars und Touristenkneipen.

Hamburg. Die Frontscheibe der Bistro-Bar "Makrele" ist zur Seite geschoben. Vom weißen Sofa und den plüschigen Sesseln hat man einen feinen Blick auf die Straße. Eine ganze Straße als Schaufenster. Es lohnt sich. Die Talstraße bietet alles, was St. Pauli hat: Rotlicht und Bars, Handwerksbetriebe und Cafés, Einzelhandel und Szenekneipen. Dazwischen findet man die Heilsarmee, Transvestiten, viele Wohnungen und urgemütliche Kneipen sowie Telefon-Shops, ein Amtsgebäude, Prostituierte, Betrunkene, Touristen und schließlich Treffpunkte für Schwule.

Lauschig ist das nicht. Aber liebenswert. Und so schön hamburgisch. Das moderne Hamburg findet sich in der "Makrele": Neben Opas Stehlampe, Liegestühlen und einfachen Holztischen hängen Kunstwerke zum Thema Emigration von Judith Tellado (31) aus Puerto Rico. Ganz klassisch geht es ein paar Meter weiter in der bonbonroten Traditionskneipe "Utspann" zu. Eine Raucherkneipe, in der Hamburg noch "Hamburch" ausgesprochen wird.

Stammgast Manuela (65), gut rasiert, mit weicher Stimme aber doch unverkennbar männlichen Zügen, sitzt an der Wand ihres "Wohnzimmers", daneben Peggy, die aus Düsseldorf kam und heute Chefin ist. Unverzichtbar: Mops "Sheela" an ihrer Seite, der so schön gallig die "Utlänners" anknurren kann. "Utlänners" (Ausländer), das sind in der Talstraße eigentlich alle Fremden, die sich nicht anpassen wollen. Die andern sind willkommen.

"Wir kennen jeden, der hier wohnt", sagt Peggy. Wenn es etwas Neues gibt, wisse das in fünf Minuten jeder. Die Straße sei eben wie ein Dorf der guten Nachbarschaft. Doch so einfach ist das nicht. Der südliche Teil führt auf die Reeperbahn und hat Rotlicht-Ambiente. Im nördlichen Teil liegen mehr Wohnungen und Geschäfte. Spielplätze in Hinterhöfen sind mit Metallgittern gesichert. "Ja, man schottet sich hier ab", sagt eine junge Mutter mit gehetztem Blick und einer fünfjährigen Tochter an der Hand. "Sonst ist das schlimm hier. Männer pinkeln ungeniert an Bäume, wenn Kinder daneben stehen." In der nördlichen Talstraße machen die Mieter "eben die Fenster zu", während im südlichen Teil die Schotten aufgemacht werden.

Wie bei der Heilsarmee, seit 85 Jahren in der Talstraße, gegenüber den Schwulen-Bars. 40 bis 60 Gäste kommen täglich zur Essensausgabe, zum Duschen oder zur Bibelstunde. Christa Benz (54) stammt aus der Südschweiz und arbeitet für die Heilsarmee. Sie sagt: "Viele einsame Menschen besuchen uns, weil sie Gesellschaft haben wollen."

Offen präsentieren sich auch andere, wie "Pauli Pizza", ein 6,2 Quadratmeter kleiner Laden. Hier spürt man den Stolz der St.-Paulianer, die ihr Quartier gern "Pauli" nennen. Inhaber Sascha Gotza (40) sagt: "Hier sind alle friedlich drauf. Der Gay will es peacig." Der Pizzabäcker beobachtet seine Kunden kriminalistisch genau: "Am Sonntag läuft das Geschäft zu 80 Prozent vor 20.15 Uhr. Nach dem Tatort ist es tot."

In der Talstraße gibt es auch Prominenz. Der Rechtsanwalt und SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Andy Grote wohnt nicht weit von einem Wohnhaus, wo das Fenster einer Prostituierten zwecks Werbung mit niederländischer Flagge und Holzschuhen dekoriert ist. Grote lebt gern dort. "Die Talstraße ist St. Pauli im Kleinen", sagt er. Und Theatermacher Corny Littmann betreibt die erfolgreiche "Wunderbar"; eine Bar, die den besten Ruf genießt.

Bleiben noch die "Transen", wie die Transvestiten hier genannt werden, die sich nachts an der Ecke zur Schmuckstraße versammeln. Einer stöckelt schon tagsüber vorbei: stark beharate Beine im Lack-Minirock. Plastikbrüste, die wie verrutschte Schulterpolster aussehen. Bullige Schultern und ein Gesichtsausdruck, der an Sheelas Knurren erinnert. Szenekenner versichern, dass dieses Outfit bei Freiern erfolgreich sei.