Im Hamburger Seemannsheim wurden gestern Gepäckstücke versteigert, die Seeleute hier zurückgelassen haben. Das Abendblatt hat mitgeboten.

Dem Koffer haftet nicht nur etwas von Wundertüte an, sondern auch ein ziemlich muffiger Geruch. Er ist rot, ein billiger Samsonite-Nachbau von mittlerer Größe, wiegt inklusive des unbekannten Inhalts ungefähr zwölf Kilogramm und hat, wie seine 17 Kollegen, jahrelang im Keller der Seemannsmission am Krayenkamp gewartet: auf seinen Besitzer. Auf irgendeinen Seemann, der ihn vor ein paar Jahren in der Mission deponiert und vergessen hat. Vielleicht aber wollte er ihn auch gar nicht mehr abholen, weil er an irgendeinem anderen Ort der Welt sesshaft geworden ist. Oder weil er wieder in seiner Heimat einen Job gefunden hat, der ihn zurück in den Schoß seiner Familie zurückbrachte.

Das Mindestgebot beträgt fünf Euro, gesteigert wird in ebensolchen Schritten.

Zehn Euro. 15. Euro.

Die Versteigerung beginnt am Nachmittag um 16 Uhr. Ungefähr 200 Neugierige und Bieter sind gekommen, und Inga Peschke, 59, die jugendlich wirkende Geschäftsführerin der Mission, freut sich, dass diesmal weitaus mehr Interessenten gekommen sind als Pressevertreter. Bei der ersten Versteigerung sei das noch anders gewesen.

20 Euro. 25 Euro.

Vor dem roten Hartschalenkoffer - dem Objekt meiner Begierde - sind schon zehn Gepäckstücke weggegangen. Prall gefüllte Reisetaschen, verschnürte Nylonbeutel im Streifenlook, Koffer aus klebrig-verschmutztem Kunststoffleder in Matschbraun, modernere Hartschalen-Exemplare auf Rollen. Forrest Gump würde sicherlich sagen: "Jeder dieser Koffer ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie, was man bekommt." Und tatsächlich kribbelt es, irgendwie.

30 Euro.

Vielleicht konnte der Seemann das gute Stück nicht mehr abholen, weil er zwischen Shanghai und Valparaiso über Bord ging oder in den Docks von New Orleans in eine üble Schlägerei mit letalen Folgen geriet. Schließlich handelt es sich bei Seeleuten gemeinhin um raue, von Wind und Wetter gegerbte Gesellen. Und sicherlich gibt es noch viele weitere nachvollziehbare Gründe, warum ein Mensch einen Teil seines Lebens einfach so zurücklässt.

35 Euro. 40 Euro.

Zum zweiten Mal nach 2008 versteigern Inka Peschke und ihr Stellvertreter Felix Tolle die Hinterlassenschaft der Seeleute, die hier in der Mission zum letzten Mal genächtigt hatten, bevor sie spurlos verschwanden. "Manche kommen, um bloß eine oder zwei Nächte aufs nächste Schiff zu warten. Andere verbringen ihren zweimonatigen Urlaub hier, wie der Kapitän, der hier heute Morgen eingecheckt hat. Und einige der Älteren, die keinen Job mehr kriegen, leben sogar mehrere Jahre bei uns, bis sie endlich alt genug für die deutsche Rente sind", beschreibt Inka Peschke ihre Klientel, die pro Übernachtung 13 Euro bezahlen muss; für eines von 45 sauberen Zimmern mit "einfacherer Ausstattung". Die restlichen 48 Zimmer verfügen über Waschbecken, Telefon und Fernsehen, 22 Zimmer davon sind zusätzlich mit Dusche und WC - die Seeleute sind mit 27 Euro dabei. "Wir haben derzeit eine jährliche Auslastung von 78 Prozent", sagt Inka Peschke.

45 Euro. 50 Euro. 55 Euro.

Eigentlich ist es glatter Irrsinn, jetzt noch mitzubieten. Schatzjäger erhoffen sich hier vielleicht Uhren, Gold und Fotoapparate; die lustigen Bieter reizt bloß die Auktion an sich. Bernd Böhmer und seine Frau Sabine sind gekommen, weil Bernds Vater früher selbst zur See fuhr und jetzt scharf ist auf eine olle Seemannskiste. Doch die Böhmers werden, so viel sei schon mal vorweggenommen, heute nicht fündig werden.

Die sensibleren Gemüter unter den Anwesenden befürchten dagegen, die Privatsphäre des ursprünglichen Besitzers verletzen zu können. Für sie käme es nicht infrage, einen Koffer zu ersteigern; aber spannend ist es irgendwie doch. "Beim letzten Mal hatten wir ein ganz besonders schweres Exemplar, das für 50 Euro weggegangen ist. Dafür bekam der Bieter ein antikes Waschbecken", erzählt Inka Peschke und lacht.

60 Euro. 70 Euro. 75 Euro.

Jetzt sinkt die Beteiligung rasant, dafür steigt die Spannung, welcher Vollpfosten bereit ist, noch mehr Geld zu riskieren. Für einen Haufen Müll. Zerschlissene Unterhosen. Alte Turnschuhe. Oder die große Überraschung.

80 Euro. 85 Euro.

Der Erlös der Kofferversteigerung wird der Mission zugutekommen, die 1891 als "Hülfskomitee für die deutsche Seemannsmission" ins Leben gerufen wurde und sich unter anderem der Aufgabe widmete, die "kirchlichen und sittlichen Notstände des Seemannslebens in Hamburg zu bekämpfen".

Als im September 1959 der Missionsneubau am Krayenkamp eingeweiht wurde, war es die Zeit der Hochkonjunktur der deutschen Seeschifffahrt nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch als 1968 das erste Containerschiff in Hamburg vom Stapel lief, begann ein neues Zeitalter: Land- und Liegezeiten verringerten sich rapide, und spätestens seit den 1990er-Jahren, als nur noch 14.000 deutsche Seeleute die Weltmeere befuhren, wurden Seemannsheime häufig zur ersten Anlaufstelle für diejenigen, die sich jetzt neue Arbeit suchen mussten, auf Schiffen, zumeist aber an Land.

90 Euro. Zum Ersten ...

"Wahrscheinlich werden wir von den Einnahmen ein Fest für unsere Seeleute finanzieren", sagt Inka Peschke. Für gut ein Dutzend von ihnen ist die Mission am Krayenkamp zu einem Stückchen Heimat geworden. Und diejenigen, die von einer Reise regelmäßig wiederkommen wollen, die Stammkunden also, lassen ihre gesamte Post hierher schicken. Sie sind hier gemeldet. Deshalb sieht sich die gelernte Fremdenverkehrskauffrau und studierte Erziehungswissenschaftlerin Inga Peschke auch eher als Mutter, denn "Seeleute", meint sie "sind eigentlich alles bloß große Jungs". Und es sei ein knallharter Job, vor allem für die Decksleute, sieben Tage die Woche, mies bezahlt. Sie weiß von einem Ghanaer und einem Matrosen von den Kapverdischen Inseln, die sich auf einem Gastanker im Mittelmeer kennengelernt hatten, und unter einem Schinderhannes von Kapitän gelitten hatten wie Hunde "Das, was sie letztlich durchhalten ließ, war die Tatsache, dass sie sich aus der Mission kannten", sagt Inka Peschke.

95. Euro. Zum Ersten ...

Die meisten der Männer, die hierherkommen, sind entwurzelt. "Ich habe inzwischen häufig den Eindruck gewonnen, dass es den Familien daheim in Afrika oder auf den Philippinen ziemlich egal ist, wie es ihren Vätern oder Söhnen draußen in der Welt geht", sagt Inka Peschke, "die wollen einfach bloß, dass die Seeleute ihre Heuer pünktlich überweisen."

100 Euro! Zum Ersten, zum Zweiten ... und zum Dritten. Meins.

Applaus brandet auf, und so ein bisschen komme ich mir in diesem Moment wie ein Idiot vor. Oder wie ein Held. Waffen oder Drogen sind bestimmt nicht in meinem roten Koffer drin. Dass der Zoll vor der Versteigerung sicherheitshalber auf die Gepäckstücke draufguckt und die verschlossenen durchleuchtet, ist ein offenes Geheimnis.

Es dauert knapp zehn Minuten, bis ich mithilfe eines Schraubendrehers die Schlösser geknackt habe. Und als ich den roten Koffer öffne, lerne ich den Afrikaner Marc Onadja kennen, geboren am 9. November 1958 in Fada N'gourma, Burkina Faso, ursprünglich Bauer von Beruf und dann Seemann. So jedenfalls steht es in seinem Pass, der allerdings nicht mehr gültig ist. Außerdem war Marc ab den 1990er-Jahren offenbar im benachbarten Ghana zu Hause, hatte sogar die Staatsbürgerschaft angenommen. Mehrmals ist er auf dem International Airport Kotoka eingereist, dem modernsten Flughafen Westafrikas in Ghanas Hauptstadt Accra. Vielleicht weil er dort die hübsche junge Frau kennengelernt hat, die vor einem geschmückten Geländewagen posiert und schüchtern in die Kamera des Fotografen lächelt.

Vielleicht haben die beiden sogar geheiratet, hat Marc den Wagen bezahlt. So wie die schicken Kleider der älteren Dame, die auf zwei Fotos zu sehen ist und die bei näherer Betrachtung Marcs Schwiegermutter sein könnte.

Vom Passfoto her ist Marc kein raubeiniger Seebär. Er schaut ein wenig traurig aus, fast nachdenklich. Von August 1963 bis August 1973 hat er die Schule besucht. Unter dem linken Auge habe er eine Narbe, so steht es im Dokument, und er sei 1,71 Meter groß.

Im Koffer befinden sich lediglich drei Sweatshirts, eine Jogginghose, alles frisch gewaschen (und nicht einmal fünf Jahre Kellerluft haben den Duft des "Bergfrühlings" von Lenor aus Marcs Klamotten vertreiben können). Dann sind da noch ein Fernsehkabel, ein paar Musikkassetten mit populärer afrikanischer Musik, ein Reisenecessaire, ein Zahnputzbecher, ein Kamm.

Offensichtlich ist Marc Diabetiker und kurzsichtig.

Zwischen zwei Sweatshirts finden sich ein Brillenetui nebst Brille sowie ein Zuckermessgerät mit 50 Pikern, noch steril verpackt. Doch das, was das Gewicht des Koffers wirklich ausmacht, sind Akten und Briefe. Da liegt nun ein wesentlicher Abschnitt eines fremden Lebens vor mir, der im Jahre 1973 begann, als Marc mit gerade mal 15 Jahren sich dazu entschloss, künftig als Seemann Geld zu verdienen, anstatt den steinigen Boden von Fada N'gourma umzupflügen. Das hat er dann bis August 2008 durchgehalten.

Marc muss ein ordentlicher Mensch sein. Sehr gewissenhaft. Er hat regelmäßig seine Steuererklärung mithilfe eines Bremer Lohnsteuerhilfevereins gemacht. 1995 verdiente er beispielsweise 36.937 Mark brutto und führte davon unter anderem 198,25 Mark Steuern an die Kirche ab. Er ist katholisch, hat alles säuberlich abgeheftet, den gesamten Abschnitt seines Lebens, in dem er in der Seemannsmission im Krayenkamp gemeldet war. Zum Schluss fuhr er als Matrose für die TT-Line. Doch dann ereilte ihn das Schicksal, das er mit so vielen anderen Seeleuten auf der ganzen Welt teilt. Er wurde mit knapp 50 zu alt für den Job des Deckmanns. Und arbeitslos. Er versuchte es mit Fortbildungen an Land, jahrelang, aber ziemlich erfolglos. Eine letzte schriftliche Spur führt in die hippe Vapiano-Pizzeria an den Hohen Bleichen, wo er im August 2008 einen befristeten Arbeitsvertrag als Spüler erhielt. Danach verliert sich seine Spur. Oberflächlich betrachtet. Es gäbe allerdings noch einiges zu lesen. Ich bin mir jedoch unsicher, ob ich wirklich noch tiefer in Marcs Leben herumwühlen soll. Wohl nicht. Es ist ja schließlich seins und geht mich gar nichts an.