Morgen wird das Fest in München eröffnet: Die Hamburger Schaustellerfamilie Brutschi ist seit vielen Jahren mit dabei.

Hamburg. Natürlich sind die Leute auf dem größten Volksfest der Welt einiges gewöhnt. Und doch: So ein Schild wie das mit der munteren Aufschrift "Heute frische fröhliche Austern!" könnte selbst für die verwöhnten Münchner bemerkenswert sein. Längst schätzen viele den schicken Riesenwagen "Hanseaten-Imbiss" mit seinen sonnigen Strahlen, mit dem knallgrünen Meer, tiefblauen Himmel und unübersehbaren Hamburger Wappen. Als wollten sie alle den Petrus beschwören. Denn am allerwichtigsten, immer und überall auf dem Rummel ist: das Wetter. Ursel Brutschi, die blonde Chefin, seit einer Woche 71 Jahre alt und seit 1971 mit ihrem Charlie auf der Münchner Wiesn Jahr für Jahr dabei, sagt sogar: "Die Wirtschaftskrise ist egal - die trifft uns nicht. Aber schlechtes Wetter, das haut rein."

Ginge es nach der Stimmung der Crew beim Aufbau, wird das Wetter während des in diesem Jahr wegen seines 200. Geburtstags um einen Tag verlängerten Oktoberfestes wohl fabelhaft. Brutschi-Sohn Sascha - sein Bruder André hatte laut Ursel Brutschi keine Lust aufs Rumziehen und ist lieber Ingenieur - wuchtet feixend das Stadtwappen hoch, Helfer Tobias ("Seit meinem achten Lebensjahr hab ich das alles hier leidenschaftlich gern!") wischt sich lachend den Schweiß von der Stirn, Ursel schreit einen Schnack rüber zur Standnachbarin ("Auch eine aus Hamburg"), und Chef Charles, 80, schaut sich einstweilen gut gelaunt auf dem gigantischen Gelände um.

Das ist zwar in diesem Jahr extrem gesichert, doch die findige Ursel hat ja ihren Elektroroller, an dem der Schlüssel noch steckt, samt baumelndem St.-Pauli-Band. Mit dem Roller zischt sie "zur Bank, zur Post, zum Aldi - überallhin". Immer wieder gerne auch in der Bayernmetropole, wo sie fast schon firm ist in so teuflischen hiesigen Termini wie "Stiegenhaus" und "Zwetschgendatschi", jedenfalls intoniert sie sie mittlerweile fehlerfrei.

Und die Abzocke auf der Wiesn beobachtet sie auch schon lange. Da werden gerne mal 500 Euro für einen Platz im Bierzelt verlangt - und auch gezahlt. Selbstverständlich ist auch der Bierpreis wieder gestiegen - von 8,10 bis 8,60 Euro im vergangenen Jahr auf 8,30 bis 8,90 Euro für die Maß. Und dass im Krug wirklich ein ganzer Liter Bier ist, kommt höchstens mal aus Versehen vor. Die Linke im Münchner Rathaus mit ihrer 6,50-Euro-Forderung blieb jedenfalls unerhört.

Eine ausgelassene junge Frau kommt vorbei, ruft: "Ich bin die Renahde, bin auch'n Fischkopp, habt ihr Arbeit? Weil Fisch mach ich viel lieber wie Wurst!" Keine fünf Minuten später hat sie den Job. Von Klofrauen bis Knödelverkäufer, überall wird jemand gebraucht. Das passt ja, freut sich Ursel über die künftige Unterstützung und ist außerdem auch recht angetan, dass das Bierfest heuer etwas aus dem Rahmen fällt wegen des historischen Termins.

1810 fand ja auf der Theresienwiese - benannt nach der lieblichen Therese von Sachsen-Hildburghausen - ihre Verehelichung mit dem bayerischen Kronprinzen Ludwig statt. Und darum schmücken auch 2010 edle Rassepferde den südlichen Teil der Wiese schon einen Tag vor dem offiziellen Festbeginn, beim ersten Pferderennen hier seit 1913; die Rennen starten täglich zweimal. Zudem gibt es Hochräder und von den Wirten in einer gemeinsamen Aktion nach damaligen Geheimrezepten speziell gebrautes dunkleres Bier.

Für solch nostalgische Momente wirbt man immer gern; für spektakuläre PR-Aktionen, zum Beispiel für Prosecco aus goldenen Dosen oder peinliches Styling irgendwelcher C-Prominenz, hat die Chefin des Münchner Tourismus-Amts und damit auch des Oktoberfests, Gabriele Weishäupl, allerdings wenig Verständnis. Da ist sie streng, da greift sie durch: "Wir wollen keine Werbewiesn, sondern ein traditionelles Fest für Familien."

Und jetzt halt manchmal altmodisch, nicht nur wegen der Pferde, eine Zeitreise in ein altes Dorf. Doch es gibt auf dem großen Platz auch neue Fahrgeschäfte, noch wilder und noch gefährlicher - mit Piranhas und Spinnen.

Sechs Millionen Besucher werden wieder erwartet. Ein Prosit der Gemütlichkeit auf der upgegradeten Wiesn, Vereinigungs-Deutschland-Feiertag inklusive - da kostet dann das Hotelzimmer in diesem Herbst erst recht 400 statt 124 Euro. Das Tourismusamt will jedoch im offiziellen Unterkunftsverzeichnis neuerdings genau auflisten, womit sich die - mehrwertsteuerminderungsfrohen - Häuser in den wiesnfreien Jahreszeiten so zufriedengeben

Und doch waren die meisten Zelte

bereits fünf Monate vor dem Anstich durch den Oberbürgermeister am morgigen Sonnabend um Punkt 12 Uhr - live auch von Husum oder Herne aus plus Einzug der Wiesnwirte im Fernsehen mitzuerleben - ausgebucht, auf jeden Fall am Abend. Mittags nicht ganz, deshalb hier der Geheimtipp besonders cleverer Wiesngänger: Sie nutzen die "Mittagswiesn". Entdeckt man ein Schild mit diesem Hinweis, spart man in manchen Zelten bis zu 30 Prozent. Mit dem Anbandeln muss es dabei nicht weniger klappen als abends - a bisserl was geht immer. Einschlägige Rekorde sind wohl - ohne dies jedoch statistisch untermauern zu können - erwünscht. Böse Zungen sprechen bei dieser Kontaktbörse gar von Brunst angesichts der Aufmärsche von Burschen - gern auch aus Bottrop - in zünftigen Ledernen und der Dirndln im Dirndl, ob Letzteres nun streng nach Tradition stilecht pur gestaltet ist oder wild und vulgär verfremdet mit viel zu kurzem Rock oder unverlangt freiestem Blick auf mehr oder weniger gelupftes Holz vor der Hüttn.

Das Gelände ist gesichert wie nie zuvor, mit Betonblumenkübel-Pollern - künftig dann auch ausfahrbar - weiträumigen Sicherheitssperrgürtel, Videokameras, komplettem Fahr- und striktem Überflugverbot sowie speziell geschulten Wiesn-Schandis, wie man hierzulande die Polizeibeamten liebevoll nennt.

Ursel Brutschi liebt vielleicht nicht jeden Schandi, dafür aber allemal die Bayern und natürlich ihren Charles. Der ist eigentlich ein Schweizer, "mein Reinfall von Schaffhausen", der, gelernter Fotograf, zuvor zur See fuhr, bevor er Ursels Charme verfiel. Die Hamburgerin tourt bereits in vierter Schaustellergeneration durch die Lande. Während ihre Männer die letzten Schrauben reindrehen, sitzt sie neben ihrem mitgebrachten Blumenkasten am Tischchen vorm Wohnwagen, einem von insgesamt fünf: ein Kühl-, ein Verkaufs- und drei Campingwagen. Garantiert ohne Milchsäurebakterien. Die sollen aber tatsächlich in diesem Herbst erstmals in den Zelten ausgesät werden gegen die schlechte Luft - wo doch jetzt der den Mief bisher bestens überstinkende Tabakgeruch wegfällt. 24-mal ist das Fest in den zwei Jahrhunderten ausgefallen - nicht nur wegen Streiks der Schausteller (1922), sondern auch wegen Krieg, Pest oder Cholera oder wie 1866 wegen herrschender Armut.

Schon immer gab es wie im richtigen Leben auf der Wiesn auch Verlierer. Bestes Beispiel: der bayerische Prinz Luitpold, dem die Teilnahme als Wiesnwirt wie vieles andere schon wieder nicht gelingen will. Der Jurist und Jollensegler beschimpfte dafür das Bierfest einmal als "eine Abräumveranstaltung für US-Touristen". Der Nachfahr des letzten Bayernkönigs beklagte bereits vor Jahren den Verfall der Tradition im Internet. Der virtuelle Einspruch musste das geplante Bürgerbegehren ersetzen, welches aus Zeitgründen platzte - aber auch hier gab es Ärger, denn Hacker mischten sich massiv ein.

Gerächt für die Ignoranz der Wirte-Konkurrenz hatte er sich ja schon einmal, als der Wittelsbacher (61) einfach rübermachte und sein Kaltenberg Castle Royal Bavarian Brewhouse eröffnete - im amerikanischen Skimekka Vail, 2500 Meter hoch.

Seine Durchlaucht vermarktete sein Gebräu in vergangenen Jahrzehnten samt seiner Person mit zunehmendem Elan - von den Ritterspielen an der Braustätte Kaltenberg bis zu immensen Plakatwänden. Einmal ist er genau während der Bayernhymne einfach frech samt Hofstaat zum Entsetzen der Offiziellen auf dem Festplatz einmarschiert - doch die Wiesn ist nun mal ausschließlich für die Brauer innerhalb des Burgbereichs, also der Stadt München, reserviert.

Vier Wochen vor der historischen royalen Hochzeit beginnt traditionell das Oktoberfest - wegen des Wetters. Heutzutage unternimmt Gabi Weishäupl alljährlich zuvor eine Wallfahrt nach Maria Eich, erstens für eine friedliche Wiesn und zweitens sicher auch für eine möglichst trockene. 1860 und 61 wurde das Fest wegen Regens gecancelt - und 1862 mit der Begründung: Es schneit.

Wenn dann in gut drei Wochen Ursel Brutschi zum letzten Mal den Tresen putzt, in dem all die feinen Fische von Aal bis Zander auslagen, wenn dann auch die Zelte längst leer sein werden, möchte Münchens Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) am 12. Oktober, dem eigentlichen Jahrestag der Eheschließung von Kronprinz Ludwig mit Prinzessin Therese, geschichtsträchtig drei Paare trauen, bei denen der Bräutigam aus Bayern und die Braut aus dem damaligen Sachsen-Hildburghausen stammen. Denen möchte man am liebsten wünschen, dass auch sie die landschaftlichen Kontraste so begeistert einschätzen wie Ursel Brutschi: "Ich liebe die Bayern - und die lieben die Hamburger wie verrückt."

Na, geht doch!